Der Ausbau des Mülheimer Straßenbahn-Netzes war nicht immer einfach. Die Stadtspitze zeigte damals großes Konkurrenzdenken. Eine Chronik.
Als im Sommer 1897 die erste Elektrische vom Rathaus Richtung Styrum rollt, sind die Menschen begeistert. Sie haben lange auf ihre Straßenbahn warten müssen. In den Nachbarstädten fahren sie bereits seit Jahren. Oberbürgermeister Karl von Bock und Polach betont beim Eröffnungszeremoniell, die Stadt sei fortschrittlich, habe auf die Pferdebahn verzichtet und gleich den günstigeren elektrischen Strom als Antriebsenergie gewählt.
Doch die Wahrheit ist eine andere: Viele Mülheimerinnen und Mülheimer wehren sich gegen die Wagen auf eisernen Schienen, die durch ihre Straßen rattern und Lärm machen. Sie nähmen Fuhrwerken den Platz zum Halten weg. Die Pferde und Fußgänger seien gefährdet. Nach 125 Jahren hat sich an dieser Abwehrhaltung in konservativen Kreisen dieser Stadt nichts geändert. Selbst die Grünen hadern mit diesem umweltfreundlichen Nahverkehrsmittel, wenn der Strom nicht aus rein erneuerbarer Energie entsteht.
Straßenbahn in Mülheim: Andauernde Verhandlungen mit Banken und Firmen
Bis die ersten elektrischen Straßenbahnen am 9. Juli 1897 durch die Stadt rollen, gibt es Jahre dauernde Verhandlungen mit Banken und Firmen. Der Rat vertagt mehrmals seine Zustimmung. Der Hafermotor beschert der Straßenbahn zwar ihren Siegeszug in den Städten, aber der elektrische Antrieb erweist sich bald als effektiver und günstiger.
Mit dem Bau des notwendigen Elektrizitätswerkes bekommt Mülheim auch eine Straßenbeleuchtung, für die sich der Oberbürgermeister stark macht. „Mehr Sicherheit auf hellen Straßen“, heißt das heute. Damals ist das eine „Verbesserung der Lebensqualität auf holperigen Wegen“. Während die Mülheimerinnen und Mülheimer noch zu Fuß oder in Kutschen oder auf Pferdefuhrwerken ihre Wege erledigen, erreicht die erste Straßenbahn von Duisburg aus die Ausflugsgaststätten an der Monning Ende Juli 1882. Sechs Jahre später (Vertragsunterzeichnung am 1. Mai 1888) erlauben die Gemeinden Speldorf und Broich, die Strecke eingleisig über die Duisburger Chaussee „bis zur Kreuzung mit der Staatsbahn“ (Gaststätte Stockfisch) zu verlängern – dort, wo sich heute die Einfahrt zum Straßenbahndepot befindet. Die Eisenbahn versperrt den Weg zur Ruhr. Die breite, dunkle Doppelbrücke neben dem Broicher Schloss entsteht erst 1902/03.
Kleine Dampflokomotiven ziehen die Personenwagen. Der Lärm zwischen den Häusern und der Dampfausstoß erschrecken Pferde und Fußgänger gleichermaßen. Manche „Kutscher können die Tiere beim Anfahren der Bahnen nicht mehr halten“, „Der Ruß verschmutzt die Kleider und Fenster“, lauten Beschwerden. Andererseits hat die Dampfstraßenbahn Erfolg. In den Sommermonaten kann sie den starken Andrang der Ausflügler kaum bewältigen. Das spornt die Mülheimer Stadtspitze an, ebenfalls eine Straßenbahn zu bauen. Nach unzähligen, über Jahre sich hinziehenden Debatten und dem Ausbremsen der Bedenkenträger beauftragt der Rat Mitte August 1895 Oberbürgermeister Paul von Bock und Polach: Er soll beim Regierungspräsidenten für die vorgelegten Projekte eine Konzession zum elektrischen Betrieb einer Straßenbahn beantragen. Gleichzeitig darf er mit der Landesbank über eine Anleihe von einer Million Mark verhandeln.
Fuhrunternehmer fährt durch Straßenbahn Verluste ein
Danach geht alles recht schnell. Ende Juni 1897 sind die Gleise vom Kahlenberg (ehemalige Jugendherberge) über die Dohne, Kaiser-Wilhelm-Platz, Rathausmarkt, Bahnhof Mülheim (heute Westbahnhof) verlegt. Vor Styrum teilt sich die Strecke und führt in einer großen Schleife über Bahnhof Styrum, Vincenzhaus, Landwehr zurück zum Mülheimer Bahnhof.
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An der Landwehr müssen die Fahrgäste in die Oberhausener Straßenbahn umsteigen, obwohl beide den gleichen Schienenabstand (Meterspur) haben. Styrum ist zu dieser Zeit noch eine eigenständige Bürgermeisterei und wird erst 1904 von Mülheim eingemeindet. Mit Eröffnung der Straßenbahn macht der Fuhrunternehmer Becker Verluste und stellt seine Pferdebusfahrten zwischen Mülheim und Oberhausen ein. Die Stadtoberen, von Beginn an den Straßenbahnbetrieb in die Verwaltung integriert, sehen sich auf einer Erfolgsspur. Eine zweite Strecke zweigt am Rathausmarkt ab und verläuft über die Bahnstraße, den Hingberg bis zur Körnerstraße vor dem Heißener Zentrum. Die Verlängerung bis zum Bürgermeisteramt geht am 13. November 1898 in Betrieb. Im gleichen Jahr wird die Dampfstraßenbahn in Broich und Speldorf elektrifiziert. Ruße spuckende Dampfloks fahren nur noch auf den Eisenbahnstrecken durch die Stadt.
Am 10. Juli 1897 steht in der Mülheimer Zeitung: „Wir übergeben die elektrische Straßenbahn dem Verkehr mit dem Wunsche, daß dieselbe anstatt Zubuße, reiche Zinsen für unsere Stadt abwerfe und zum Ruhme der ausführenden Firma und zum Segen unserer lieben Vaterstadt werde. Wir stehen deshalb auch nicht an, die rege Benutzung dieses Instituts, das sicher auf die freundliche Aufnahme bei hiesiger Bürgerschaft rechnen darf, anzuempfehlen.“ Eine deutliche Zurückhaltung gegenüber der Elektrischen.
Die Stadt Mülheim muss zusätzliche Triebwagen kaufen
Das nutzt aber wenig. Der ursprüngliche 15-Minuten-Takt wird nach der ersten Zeit bereits auf einen Sechs-Minuten-Abstand verdichtet. ‚Die Stadt muss zusätzliche Triebwagen kaufen, weil die Kapazitäten nicht mehr reichen. Sind es an den Werktagen Tausende, die zwischen Wohnungen und den Großbetrieben der Stadt pendeln, füllen an den Wochenenden Ausflügler zum Kahlenberg die Straßenbahnen. Unattraktive Stundentakte an Samstagen und Sonntagen wie heute sind damals nicht angesagt.
Die Gleise und Oberleitungsanlagen bauen Handwerker der Aktiengesellschaft Elektrizitätswerke Niedersedlitz bei Dresden (vormals O. Kummer und Cie). Ende September 1898 starten die Bauarbeiten für die Strecke vom Bahnhof Eppinghofen (heute Hauptbahnhof) auf der Eppinghofer und Mellinghofer Straße über Dümpten Auf dem Bruch bis Lipperheidebaum (ein Kilometer hinter der Stadtgrenze in Oberhausen). An diesem Knotenpunkt bestehen ab 10. Juli 1900 Anschlüsse mit der Essener und der Oberhausener Straßenbahn in die Nachbarstädte.
Mülheims Ratsherren und Stadtspitzen mit Weitblick erkennen nämlich, dass mit der Straßenbahn Wachstum verbunden ist – vor allem für die Einverleibung weiterer Landgemeinden und Bürgermeistereien. Diesen wird bald detailliert ein Straßenbahnanschluss offeriert, wenn sie innerhalb der Mülheimer Stadtgrenzen seien. Das gilt für Dümpten, Heißen, Holthausen, Saarn, Broich, Speldorf und Styrum. Wegen dieser Ausdehnungsbestrebungen Mülheims bleiben umsteigefreie Direktverbindungen zwischen den Nachbarstädten noch über Jahre tabu – obwohl dies technisch (gleiche Gleise, Stromspannung und Wagenbreiten) problemlos möglich ist. Das Kirchturm- und Konkurrenzdenken hat im Ruhrgebiet besonders große und viele Wurzeln.
Trotz der erfolgreichen Stadtvergrößerung – der fortschrittlich denkende und agierende Paul Lembke ist seit 1. Januar 1904 Oberbürgermeister – stagniert die Erweiterung des Straßenbahnnetzes. Schuld daran ist die Staatsbahn, die nur äußerst selten Kreuzungen mit der Straßenbahn auf den straßenbündigen Übergängen erlaubt. Auch die Ruhrbrücke, deren Ketten nur für drei Pferdefuhrwerke ausgelegt sind, kann keine Straßenbahnwagen tragen.
Dämme sorgen für Erweiterung des Netzes
Daher bleibt es vorerst bei drei Linien auf rund 17 Kilometern, größtenteils eingleisigen Strecken. Darum müssen die Wagen von der Dümptener Straße vorerst über ein Gleis auf der Aktienstraße zum Depot an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße aus- und einrücken. Die beiden Hallen standen gegenüber der Friedrich-Wilhelms-Hütte. Eine davon steht noch heute und trägt einen rosafarbenen Anstrich.
Erst als die Staatsbahn damit beginnt, ihre Gleisanlagen auf Dämme zu legen und die erste steinerne Schlossbrücke die Kettenbrücke ersetzt, kann das Mülheimer Straßenbahnnetz wachsen. 1909 sind die große und die kleine Thyssenbrücke am Ortseingang von Styrum fertig. Ein Jahr später überqueren die Züge die Eppinghofer Straße auf Brücken. Die Straßenbahnen aus Dümpten können am September 1910 bis zum Rathausmarkt durchfahren. Im Oktober 1910 geht eine neue Strecke vom Kaiserplatz den Berg hinauf über die Kaiserstraße bis zur Friedenstraße (Kuhlendahl) Richtung Holthausen in Betrieb.
Wenige Wochen danach wird die Verlängerung vom Heißener Zentrum bis zur Essener Stadtgrenze (heute Rhein-Ruhr-Zentrum, Wickenburgbrücke) eröffnet – noch ohne durchfahrende Wagen. Der Gleisbau für die Straßenbahn nimmt in Mülheim ein rasantes Tempo auf. Mit Eröffnung der Schlossbrücke Im Sommer 1911 fahren die Straßenbahnen der Duisburger Gesellschaft von Speldorf kommend bis in die Stadtmitte durch. Seit 1. Juni 1911 biegen Triebwagen über den Mühlenberg zum Kassenberg ab und fahren durch das Saarner Dorf bis auf die Landsberger Straße.
Elf Tage danach geht die neue Strecke über Broich bis zum Waldschlösschen in Betrieb. Die Verlängerung in den Wald zum Uhlenhorst mit seinen Ausflugslokalen ist am 10. Juli 1912 fertig und eröffnet. Weil die Duisburger Straßenbahn auf Normalspur (1435 Millimeter) unterwegs ist, die Mülheimer Wagen aber die Meterspur brauchen, bauen Arbeiter zwischen Rosendahl und Stadtmitte Vierschienen-Gleise ein. Eine Besonderheit, die sich bis heute (nun im Tunnel) gehalten hat.
Vom Wilhelmsplatz wird eine zweite Strecke nach Holthausen über die Kampstraße am Bismarckturm vorbei bis zur Dimbeck im Herbst 1911 eröffnet. Ein Jahr später sind die Schienen auf der Aktienstraße bis zur Grenze Borbeck verlegt. Die Gleisverbindung mit der Essener Straßenbahn wird zwar verschweißt, die Oberleitungen sind angeschlossen. Aber durchfahrende Bahnen – vorerst Fehlanzeige. Am 10. September 1913 liegen die Schienen auf der Oppspringkreuzung und weiter bis zum Steinknappen. Damit hat das Mülheimer Straßenbahnnetz seine Anfangslänge auf 27 Kilometer fast verdoppelt.
Die Metallknappheit während des am 28. Juli 1914 beginnenden 1. Weltkrieges stoppte den Gleisbau für die Mülheimer Straßenbahn. Dennoch gelang es, vom Styrumer Bahnhof eine Strecke über die Steinkampstraße, die Ruhr- und Schleusenbrücken bis zum Raffelberg zu bauen. Nahe der Monning konnten Fahrgäste dort ab 12. September in die Straßenbahnen nach Speldorf oder nach Duisburg umsteigen. Fortsetzung folgt.