Mülheim. Der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig. Nun erinnerten sich Mülheimer Zeitzeugen daran, wie sie den Zweiten Weltkrieg erlebt haben.
Angesichts der Kriegsbilder aus der Ukraine konnten Mülheimer Zeitzeugenberichte aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren in Deutschland nicht aktueller sein. Ursula Ulrike Storks, Jutta Lose und Horst Heckmann berichteten jetzt im evangelischen Gemeindezentrum am Scharpenberg einem interessiert zuhörenden und mitdiskutierenden Publikum ihre Erinnerungen, die ihnen gerade jetzt wieder ins Bewusstsein kommen und manchmal auch zu Tränen führen.
Eingeladen hatten Harald Karutz, Merit Tinla und Iris Schmidt vom Psychosozialen Krisenmanagement der Stadt und von der Vereinten Evangelischen Kirchengemeinde. „Vieles, was ich heute vom Krieg in der Ukraine sehe und höre, erinnert mich an die NS-Zeit. Wie in Russland, so wurden auch wir damals von gleichgeschalteter Staatspropaganda indoktriniert. Über kritische Themen wurde die Decke des Schweigens gelegt. Das Hören der deutschen BBC war während des Zweiten Weltkrieges streng verboten. Wer es trotzdem tat, konnte dafür hingerichtet werden“, erinnert sich der 1928 geborene Styrumer Horst Heckmann.
Mülheimer Zeitzeuge: „Wir müssen uns gute Argumente für den Frieden bewahren“
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Auch die politische Instrumentalisierung der Geschichte, wie der russische Präsident Putin vorexerziert, erinnert Heckmann an seine Kindheit und Jugend. „Nur weil viele Deutsche den Versailler Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg mit seinen Reparationen und seinen wirtschaftlichen Folgen nicht als gerecht empfanden, wurde der Boden für den politischen Aufstieg Hitlers bereitet“, ist der heute 94-Jährige überzeugt.
Als junger Wehrmachtssoldat erlebte er 1945 in Mecklenburg den Beschuss von Flüchtlingstracks durch die sowjetische Luftwaffe und die massenhafte Vergewaltigung deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten, denen sich viele Frauen durch Suizid entzogen. Er sagt angesichts der aktuellen politischen Weltlage: „Wir müssen heute wachsam sein und uns gute Argumente für den Frieden bewahren. Wir dürfen nicht der Propaganda folgen.“
Eine Mülheimer Mutter: „Frieden ist, wenn wir nachts ruhig schlafen können“
Die 1939 am Schildberg geborene und aufgewachsene Ursula Ulrike Storks wurde durch die corona-bedingten Warteschlangen vor den Supermärkten und durch die Kriegsbilder aus der Ukraine an ihre Kindheit erinnert. Storks berichtete eindrucksvoll vom Einmarsch der amerikanischen Soldaten am 11. April 1945. „Jetzt ist Frieden!“ sagte ihr damals die Mutter. Und sie fragte zurück: „Was ist denn Frieden?“ Darauf antwortete die Mutter: „Frieden ist, wenn wir nachts ruhig schlafen können und wenn du draußen auf der Straße spielen kannst, ohne Angst zu haben.“
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Storks berichtete: „Die amerikanischen Soldaten waren freundlich zu uns Kindern. Sie winkten uns zu sich und gaben uns, was wir gar nicht kannten: Bananen, Schokolade und Kaugummi. Wir revanchierten uns mit einem Lied. Dann zeigten uns manche Soldaten Fotos mit ihren Kindern und Frauen. Manche haben auch geweint und wir haben sie getröstet. Es gab Erwachsene, die nicht wollten, dass wir zu den Amerikanern gingen, aber die GIs haben darauf bestanden. Die britischen Besatzungssoldaten, die den Amerikanern im Juni 1945 folgten, waren nicht so freundlich. Sie haben uns oft beschimpft oder mit Steinen beworfen.“
Kriege wirken über Generationen psychisch nach
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Angesichts der unfriedlichen Zeiten war sich das Publikum einig, dass der Wert der Zeitzeugen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit unschätzbar ist. Viele Zuhörer berichteten Kriegsgeschichten aus ihren Familien und machten klar, dass die Kriege über Generationen psychisch nachwirken.
Die 1949 in Dümpten geborene und aufgewachsene Zeitzeugin Jutta Loose hat als Mädchen aus der Nachkriegszeit in Erinnerung behalten, „dass mein Vater als Kriegsversehrter heimkehrte und ich damals sogar Kriegsversehrte gesehen habe, die auf der Straße gebettelt haben, um zu überleben“. Der große und mit Obst und Gemüse ertragreiche Garten ihrer Großeltern war das Paradies ihrer Kindheit, auch wenn sie „mit meinen Eltern bis 1954 in einem Zimmer leben musste und wir nur ein Plumpsklo hatten“.
Mülheimer Kinder entdeckten beim Rodeln in der Russenkuhle Skelette
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Sie berichtete, dass ihr Vater seinen rechten Arm gar nicht mehr und seine linke Hand nur sehr eingeschränkt benutzen konnte. Loose: „Ich konnte mit meinem Vater keine Ballspiele machen, nur Karten und Knobel waren drin. Meine Mutter musste meinem Vater das Essen mundgerecht zubereiten. Und ich musste schnell selbstständig werden. Deshalb habe ich auch schon früh mit Messer und Gabel gegessen und mir selbst die Schuhe geschnürt.“
Der Krieg holte sie und ihre Spielkameraden aber ein, als sie beim Rodeln in der Russenkuhle Skelette entdeckten, die von russischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern stammten. Loose sagt heute: „Ich weiß nur eins: Wir brauchen Frieden.“ Horst Heckmann kann sich erinnern, als Kind in der Stadt Männer in Häftlingskleidung gesehen zu haben. Er gibt zu: „Wir hatten damals mit ihnen kein Mitleid, weil wir sie aufgrund der NS-Propaganda für Verbrecher hielten.“
Nach dem Zeitzeugengespräch bekannte der 17-jährige Bezirksschülersprecher und Jugend-Stadtrat Samuel Bielak: „Vielen Dank. Was Sie leisten, kann kein Geschichtsbuch und kein Geschichtslehrer leisten. Es ist etwas anderes, historische Tatsachen zu lesen oder von Zeitzeugen erzählt zu bekommen. Das ist für mich überwältigend. Das muss ich erst mal sacken lassen.“