Mülheim. Als Achtjähriger bangte Günter Voß beim Einmarsch der Amerikaner in Mülheim: Sein Vater, der sich im Keller versteckte, hatte noch eine Pistole.

Als kleiner Junge hat Günter Voß (Jahrgang 1937) die Kriegsjahre erlebt. „Mein Vater Willi, geboren 1898, arbeitete bei der Deutschen Reichsbahn und war in Russland für den Militärnachschub zuständig. Wir drei Kinder lebten mit der Mutter in Broich. Wir wohnten in einem Sechs-Familien-Haus an der Cheruskerstraße.“ Der Vater habe stets gesagt, „wir sollten vorsichtig sein mit dem, was wir sagten. Denn im Haus wohnten stramme Nazis. Da wusste man nie, wer wen anschwärzte.“

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Als dann Anfang 1943 Stalingrad gefallen war, schrieb der Vater nach Hause, der ältere Sohn solle sich zum Einsatz melden. „Das war für unsere Mutter ein Schlag“, erinnert sich Günter Voß. Sein großer Bruder Helmut, Jahrgang 1924, besuchte damals eine Ingenieurschule in Duisburg. Er meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, kam zur Marine.

Älterer Bruder wurde am „D-Day“ im Minenräumboot versenkt

Am so genannten „D-Day“, als die Alliierten Truppen an der Küste Belgiens und Frankreichs landeten, wurde er mit einem Minenräumboot versenkt, überlebte aber. „Als meine Mutter nichts mehr von ihm hörte, machte sie eine Vermisstenanzeige. Jeden Tag gingen wir um acht Uhr auf die Schloßstraße, sprachen Matrosen an. Dann trafen wir einen, der meinen Bruder auf dem Foto erkannte. ,Der ist abgesoffen. Aber er lebt und ist in englischer Gefangenschaft’, habe der gesagt. Das war für meine Mutter wie ein Hauptgewinn im Lotto.“

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Die Mutter habe sich dennoch große Sorgen gemacht, erinnert sich Günter Voß, und konnte nur weiter hoffen. Immer wieder rannte die Familie, zu der noch seine Schwester Marianne (geboren 1922) gehört, vor den Luftangriffen in den Bunker an der Salierstraße. Der am Broicher Friedhof war zu weit weg und außerdem feucht. Reichte die Zeit nicht mehr, ging es in den Keller oder einfach auf den Boden in den Wohnung.

Vater stand plötzlich nachts vor der Tür

„Zwei Wochen vor Kriegsende schellte es nachts Sturm“, berichtet der Mülheimer. „Meine Mutter sprang aus dem Bett und rannte die Treppe hinunter - in der Hoffnung, es wäre ihr vermisster Sohn. Als sie die Haustür öffnete, stand mein Vater aus Russland vor ihr. Meine Mutter sagte nur: ,Willi, du?’ Mein Vater: ,Freust du dich nicht?’ ,Doch, Willi, aber ich habe Helmut erwartet.’ Ohne Wertung - so kann nur eine Mutter sein.“

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Der Vater war mit dem letzten, rettenden Zug aus Russland getürmt. Doch der Krieg war noch nicht zu Ende. Alle Männer, die aufgegriffen wurden, mussten zum „Volkssturm“. Darum versteckte die Familie - „wegen der Nachbarn“ - den Vater im Keller, hinter einem Verschlag in den restlichen Kohlen. Niemand durfte wissen, dass Willi Voß wieder zu Hause war.

Mit Pistole in den erhobenen Händen auf die Amerikaner zugegangen

Als die Amerikaner kamen, nahmen sie auch Hausdurchsuchungen vor. „Wenn sie Waffen fanden, wurde ,kurzer Prozess’ gemacht“, berichtet Voß. Der Vater hatte noch eine Pistole. Damit verließ er den Keller und ging mit erhobenen Händen auf die Straße. „Ich stand oben in der ersten Etage am Fenster und sah vier amerikanische Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag. Sie schossen nicht. Mein Vater ging auf sie zu. Sie nahmen ihm die Pistole ab – und alle waren erleichtert.“

Weitere Berichte folgen

Zahlreiche Leserinnen und Leser haben sich in der Redaktion gemeldet, um ihre Erinnerungen an den Einmarsch der Amerikaner vor 75 Jahren zu schildern. Manche stimmen auch mit den Berichten anderer überein.

Wir stellen diese Zeitzeugenberichte in einer Serie vor. Wir möchten damit auch jüngere Leute über eine Zeit informieren, die sie nicht miterleben mussten. Zugleich herrscht an vielen Stellen auf der Welt immer noch Krieg.

Vom vermissten Bruder kam erst Ende 1945 ein Zweizeiler aus England: „Ich lebe, mir geht es gut.“ Da er sehr musikalisch ist und Akkordeon spielt, stand er oft auf der Bühne und hat die Gefangenschaft einigermaßen gut überstanden. „Helmut kam erst 1948 nach Hause. Die Mutter war mehr als glücklich.“ Er hatte in England Freunde fürs Leben gefunden, eine Familie kam auch nach Mülheim zu Besuch, und der Bruder fuhr immer wieder gern auf die britische Insel.

„Das war eine der wenigen guten Seiten des Krieges. Der Rest war nur schlimm und hat sich in meine Erinnerungen eingegraben“, resümiert Günter Voß, „gewaltig und unvergesslich.“