Mülheim. Eine Mülheimer Firma hat Gebärdendolmetscher für alle Fälle: Trauerfeier, Elternabend, Gericht. Dahinter steht eine teils gehörlose Großfamilie.

Die kleine Enkeltochter von Kira Knühmann-Stengel läuft im Garten umher und quengelt. Wie Anderthalbjährige es so machen, wenn sie müde oder genervt oder hungrig sind. Ihren Opa stört das am wenigsten, er sitzt am Tisch, mit dem Rücken zum Kind, und bekommt es nicht mit. Michael Stengel ist gehörlos, doch bald wird er sich mit der Kleinen unterhalten können. Jedes Mitglied dieser Mülheimer Großfamilie lernt früher oder später auch Gebärdensprache.

Einige beherrschen sie so perfekt, dass sie im Familienunternehmen mitarbeiten: Vor fast zwei Jahrzehnten, 2003, haben Kira Knühmann-Stengel (57) und ihr Geschäftspartner Klaus Meinhold - beide hörend - auf der Mülheimer Heimaterde eine Agentur für Gebärdensprache gegründet, Transignum. Sie dolmetschen, übersetzen schriftlich, unterrichten in Gebärdensprache, leisten Familienhilfe. „Es ist ein Traumjob“, sagt Knühmann-Stengel.

Mülheimer Familie hat fünf Kinder, eine Tochter ist gehörlos

Die gelernte Erzieherin begann früh mit Gehörlosen zu arbeiten, bildete sich fort zur staatlich geprüften Gebärdensprachendolmetscherin. Auch ihren Ehemann lernte sie über den Job kennen - Michael Stengel (63) war lange Geschäftsführer des NRW-Landesverbandes der Gehörlosen. Das Paar hat fünf erwachsene Kinder - Laura, Tina, Julia, Tim, Jan - und vier Enkelkinder. Aus der jungen Generation ist nur Tochter Tina gehörlos. Die 24-Jährige hat an der Universität Köln Deutsche Gebärdensprache studiert, sie ist mittlerweile selber Dozentin und arbeitet intensiv bei Transignum mit.

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Wer Familie Knühmann-Stengel in ihrem Haus auf der Heimaterde besucht, muss sich auf lebhafte, gestenreiche Begegnungen einstellen. Wie soll es auch anders gehen, wenn zwei Personen keine Stimmen wahrnehmen? Daher trägt jedes Familienmitglied neben dem amtlichen Vornamen einen Namen in Gebärdensprache. „Sonst könnten mein Mann und ich uns ja nicht über die Kinder unterhalten“, erklärt Knühmann-Stengel.

Namen in Gebärdensprache dürfen „nie diskriminierend“ sein

Generell würden Namen in der Gehörlosencommunity abgestimmt, sie orientieren sich oft an typischen Äußerlichkeiten eines Menschen - ob Privatperson oder Promi. So wird die jüngste Enkelin der Mülheimer Familie mit einer Handbewegung bezeichnet, die ihre auffällig großen Augen andeutet. So hat sich für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eine Gebärde durchgesetzt, die seine typische Fliege darstellt. „Es darf aber nie diskriminierend sein“, stellt Kira Knühmann-Stengel klar. Züge, auf die sich Karikaturisten gerne stürzen, etwa die Mundwinkel von Ex-Kanzlerin Angela Merkel, seien in der Gehörlosencommunity tabu.

Mit Angela Merkel und anderen Politpersönlichkeiten hat sich die Mülheimerin lange Zeit auch beruflich beschäftigt: Fast 15 Jahre lang war sie als Gebärdendolmetscherin für die „Tagesschau“ und das „heute journal“ im Einsatz, stand viele Abende live im Studio, nennt diese Arbeit eine „wirklich gute Erfahrung“, die auch ihren Bekanntheitsgrad gesteigert habe.

Gericht, Krankenhaus, Elternsprechtag - Dolmetscher sind überall dabei

Die Agentur Transignum, mit Hauptsitz am Sunderplatz, hat offenbar reichlich zu tun, weit über Mülheim, weit über das Ruhrgebiet hinaus. Rund 16 festangestellte Mitarbeitende und etliche freie Honorarkräfte zählen zum Team. „Wir dolmetschen in allen Situationen/Settings, in denen die Kommunikation zwischen Hörbehinderten und Hörenden notwendig ist“, heißt es auf der Homepage der Firma. Es folgt eine lange Liste möglicher Einsatzgebiete: Polizei, Gericht, Bewährungshilfe, Krankenhaus, Teamsitzungen, Berufsausbildung, Hochzeit, Parteitage, Elternsprechtag, Messen, vieles mehr.

Die Mülheimer Gebärdensprachenexpertin Kira Knühmann-Stengel und ihr Kollege Klaus Meinhold dolmetschen auch live bei Kulturveranstaltungen. Dieses Foto entstand im Oktober 2018 im Rahmen der Lit.Ruhr auf der Essener Zeche Zollverein.
Die Mülheimer Gebärdensprachenexpertin Kira Knühmann-Stengel und ihr Kollege Klaus Meinhold dolmetschen auch live bei Kulturveranstaltungen. Dieses Foto entstand im Oktober 2018 im Rahmen der Lit.Ruhr auf der Essener Zeche Zollverein. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Mordprozesse hätten sie schon begleitet, berichten Kira Knühmann-Stengel und Kollege Klaus Meinhold, ebenso Geburten, muslimisches Fastenbrechen, Trauerfeiern. Vor vier Jahren hat das Dolmetscher-Duo beispielsweise einen gehörlosen jungen Mann bei seiner Ausbildung zum Fahrlehrer unterstützt, hat für ihn Fachseminare übersetzt. Auch bei Theateraufführungen, etwa Familienstücken am Theater Oberhausen, und bei literarischen Veranstaltungen sind sie häufig mit dabei, damit auch gehörlose Zuschauer diese Kulturangebote verfolgen können.

Zur nächtlichen Abschiebung eines gehörlosen Mannes gerufen

Klaus Meinhold erinnert sich lebhaft an einen Notfalleinsatz in Moskau, bei dem er einen Arzt begleiten musste. Auch zur Abschiebung eines gehörlosen Mannes habe man ihn schon gerufen, beim nächtlichen Einsatz einer Hundertschaft in einer Flüchtlingsunterkunft - „das war schon heftig“. Kira Knühmann-Stengel stand 2005 beim Weltjugendtag in Köln als Dolmetscherin neben dem Papst. Sie schwärmt: „Diese Vielfalt unseres Berufes ist das Tolle!“

Hilfe für Gehörlose aus der Ukraine

Die Mülheimer Gebärdendolmetscherin Kira Knühmann-Stengel und andere Ehrenamtliche betreuen derzeit gehörlose Flüchtlinge aus der Ukraine: Rund 40 von ihnen sind vorübergehend im Kardinal-Hengsbach-Haus in Essen-Werden untergekommen.

Ziel ist, den Geflüchteten eigene Wohnungen zu vermitteln, was in einigen Fällen bereits gelungen ist, unter anderem in Mülheim. Gesucht werden Wohnungen auf Jobcenter-Niveau für eine bis vier Personen sowie Möbelspenden, diese allerdings „auf Abruf“.

Für Wohnungsangebote oder Sachspenden kann man sich an die Agentur Transignum wenden unter 0208/78 222 94 11 oder transignum.kira@gmail.com.

Da die Kinder das ähnlich sehen, scheint die Zukunft des Familienunternehmens gesichert. Wenn alle im Elternhaus zusammenkommen, meist sonntags zum großen Frühstück, und alle quatschen, könne es für ihren Ehemann, für Tochter Tina und deren gehörlosen Freund schon mal anstrengend werden, sagt Kira Knühmann-Stengel. „Sie müssen die Gebärdensprache dann einfordern.“ Zu diesem Zweck wachsen die Enkelkinder auch zweisprachig auf. Nur wenn es an der Türe schellt, muss niemand übersetzen. Das Haus der Familie hat eine Klingel und ein blinkendes Lichtsignal.