Bochum-Gerthe. Ein ungewöhnliches Pilotprojekt zieht Teilnehmer aus ganz Deutschland nach Bochum-Gerthe. Die Gehörlosen spüren die Musik durch Schwingungen.
Es ist eine Tanzaufführung der ganz anderen Art. Für hörende Zuschauer gibt’s Ohropax, denn es wird sehr laut. Es geht nicht um die Melodik der Musik, deswegen hört sich die Komposition im herkömmlichen Ohr sehr befremdlich an. Das, was zählt, ist die Schwingung, die von den tiefen, teilweise sehr monotonen Tönen ausgelöst wird. Zusammen mit einem Team, bestehend aus Pädagogen, Musikern und Dolmetschern, brachte die Kompositionspädagogin Hanna Fink an zwei Wochenenden sieben Gehörlose zusammen. Sie komponierten Musik und kreierten die dazu passenden Tanzbewegungen.
„Eigentlich würde man denken, dass Gehörlosigkeit und Musik nicht zusammenpassen“, sagt die Organisatorin. Ihre gehörlosen Teilnehmer haben an diesem Abend im Zentrum für Tanz und Bewegung an der Lothringer Straße gezeigt, dass es eben doch zusammenpasst. Sie stellen ihre Choreografie vor, die sie an den beiden Wochenenden im Tanzzentrum einstudiert haben.
Hörende spüren die Schwingungen
Die Tänzer liegen auf dem Boden, um sie herum haben sich die Musiker positioniert. Die Teilnehmer werden beim Tanzen von Trommel, Tuba, Posaune, Schlagzeug und Computerelektronik begleitet. Die Elektronik sorgt zwischenzeitlich für so tiefe Schwingungen, dass die ganze Tanzschule zu vibrieren scheint. Die Hörenden können Luftballons in die Hände nehmen, um die Vibration noch mehr wahrzunehmen. Die gehörlosen Tänzer brauchen dafür keinen Luftballon.
Sobald die Teilnehmer die Schwingungen spüren, setzen sie sich mit fließenden Gesten in Bewegung. Dabei erzählen sie ihre persönlichen Geschichten. Das tun sie mit abgewandelten Gesten der Gebärdensprache, aber auch mit bildlichen Bewegungen. „Gehörlose leben zwar in der Mitte der Gesellschaft, aber sie bekommen überhaupt keinen Zugang zu unserer Kultur. Sie können keine Musik hören, geschweige denn haben sie die Chance, Musik zu komponieren“, erzählt Hanna Fink nach der Vorstellung.
Dolmetscherinnen engagiert
Sie wollte diesen Zustand ändern. „Jeder kann tanzen und jeder kann Musik komponieren“, sagt die 28-Jährige. Damit die Idee funktionieren konnte, war es wichtig, einander zu verstehen. Weil niemand aus dem Team Gebärdensprache spricht, engagierte die Pädagogin vier Dolmetscherinnen, die dafür sorgten, dass die Kommunikation zwischen Hörenden und Gehörlosen funktioniert.
„Aber selbst die standen manchmal ratlos da, als es um verschiedene Musikbegriffe ging“, sagt Hanna Fink. In der Gebärdensprache gibt es beispielsweise keinen Ausdruck für „Schlagzeug“ oder das Blasinstrument „Tuba“. Doch auch hier wurden die Teilnehmer kreativ. Sie dachten sich für die Instrumente einfach eigene Wörter aus.
Das Kompositions- und Tanzprojekt
Die Teilnehmer kamen aus verschiedenen Städten in Deutschland. Eine Teilnehmerin reiste sogar aus Berlin an.
Gabriele Jüttner, Leiterin des Zentrums für Tanz und Bewegung an der Lothringer Straße, stellte die Räume sowohl für den Workshop als auch die Aufführung zur Verfügung: „Gehörlose, die Musik komponieren? Das Projekt hat das Unmögliche möglich gemacht“, schwärmt die Tanzlehrerin.
„Es gibt zwar schon einige Projekte, bei der Gehörlose beispielsweise Liedertexte in Gebärdensprache übersetzen und dazu tanzen. Es gibt aber noch kein Projekt wie dieses, bei dem die Musik selbst von Gehörlosen komponiert wird“, erzählt Christine Tschuschner, die als Pädagogin für den Landesverband Gehörlose NRW tätig ist und selbst gehörlos ist.
Teilnehmerin Bettina Fuhs schwärmt nach der Aufführung in Gebärdensprache: „Es hat so viel Spaß gemacht. Ich würde sofort wieder mitmachen.“ Das Team hofft, dass es noch mehr Projekte dieser Art ins Leben rufen kann. „Musik ist für alle da und soll für alle zugänglich sein“, sagt Tuba-Spieler Adrian Prost. „Und es ist schön, als Hörender einen Einblick in die Welt der Gehörlosen zu bekommen, die uns sonst verschlossen bleibt.“