Essen. Viele gehörlose Ukrainer zieht es nach Essen, wo es ein gutes Netzwerk für Hörgeschädigte gibt. Doch die Gebärdensprache ist nicht international.

Mit Verständigungsproblemen haben wohl alle Flüchtlinge zu kämpfen, die aus der Ukraine hier ankommen. Im Kardinal-Hengsbach-Haus leben nun 29 Ukrainer, die gehörlos sind und per Gebärdensprache kommunizieren. Bei Behördengängen oder Wohnungssuche müssen sie besondere Hürden nehmen. Doch sie haben Glück: Ihnen hilft eine Gruppe hörender und gehörloser Menschen aus Mülheim und Essen, der Hauptstadt der Gehörlosen-Community.

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So formuliert es Kira Knühmann-Stengel, die als Gebärdendolmetscherin arbeitet und zu der Helfergruppe gehört. Da in Essen das einzige Berufskolleg für Hörgeschädigte beheimatet ist, kommen taube Menschen aus der ganzen Republik während ihrer Ausbildung hierher – und manche bleiben fürs Leben. Aus diesem Kreis entstand schon um 2015, als viele syrische Flüchtlinge nach Essen kamen, die Gruppe „Deaf Refugees“ („taube Flüchtlinge“), die sich um gehörlose Neuankömmlinge kümmerte. „Die Gruppe aktivieren wir jetzt wieder.“

Essen ist die Hauptstadt der gehörlosen Community

Völlig problemlos ist die Kommunikation zwischen deutschen und ukrainischen Gehörlosen nicht. „Viele glauben, dass es da eine einzige Gebärdensprache gibt, die weltweit verstanden wird“, sagt Gebärdendolmetscherin Kira Knühmann-Stengel. „Doch das ist leider falsch.“ Gebärdensprachen sind fast so unterschiedlich wie Landessprachen, allerdings gibt es manche Zeichen, die international verstanden werden. So nehmen sich Knühmann-Stengel und ihre Mitstreiter der Flüchtlinge teils schon an, wenn sie ratlos am Essener Hauptbahnhof eintreffen, und helfen ihnen später bei Arztbesuchen, Kita- und Schulplatzsuche. Sie werben nun dafür, wieder besondere Deutschkurse für sie einzurichten.

Auch haben sie die Stadt überredet, die Gehörlosen gemeinsam im Kardinal-Hengsbach-Haus unterzubringen, das insgesamt rund 300 Plätze biete. Dort ist die passende Infrastruktur entstanden: „Wir haben Gebärdendolmetscher für Russisch und für Ukrainisch, die Termine bei der Sparkasse oder bei Behörden begleiten oder hier vor Ort übersetzen.“ So schicke das Amt für Soziales und Wohnen schon mal Mitarbeiter für einen ganzen Tag ins Haus, die unterstützt vom Dolmetscher dann Formalitäten mit allen gehörlosen Bewohnern klären können.

Dem lebhaften Austausch der ukrainischen Flüchtlinge können deutsche Gehörlose nur begrenzt folgen: Gebärdensprachen sind von Land zu Land verschieden.
Dem lebhaften Austausch der ukrainischen Flüchtlinge können deutsche Gehörlose nur begrenzt folgen: Gebärdensprachen sind von Land zu Land verschieden. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Dass vergleichsweise viele hörgeschädigte Flüchtlinge in Essen eintreffen, ist kein Zufall: Allein 17 aus Charkiw kamen über einen Ukrainer, der aus der Stadt stammt, selbst gehörlos ist und schon lange in Essen lebt. Die Stadt hatte die Gruppe wegen fehlender Plätze zunächst nach Dorsten weitervermittelt: „Wir haben dann darauf aufmerksam gemacht, dass das Hengsbach-Haus für Flüchtlinge geöffnet wird und die ideale Adresse für sie wäre.“ So kam es.

Größte Gehörlosen-Community Deutschlands lebt in Essen

In Essen lebt die größte Gehörlosen-Community Deutschlands, weil hier das einzige Berufskolleg für Hörgeschädigte angesiedelt ist: Das Rheinisch-Westfälisches Berufskolleg (LVR-Förderschule) mit Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation in Frohnhausen. Das Berufskolleg bietet mehr als 140 Ausbildungsberufe an, auch Fachhochschulreife und allgemeine Hochschulreife können erworben werden.

Aktuell kümmert sich eine Gruppe von gehörlosen und hörenden Personen aus Essen und Mülheim um taube Geflüchtete aus der Ukraine. Über Kontakte zu gehörlosen Landsleuten, die schon länger hier leben, sind viele von ihnen ins Ruhrgebiet gekommen. Wer ein Wohnungsangebot für sie hat, kann sich bei Kira Knühmann-Stengel melden. Die Gebärdendolmetscherin ist zu erreichen unter: 0208/78 222 94 11 oder per Mail an: Auch Kühlschränke, Waschmaschinen, Betten... sind willkommen.

Allerdings ist das Hengsbach-Haus wie andere Unterkünfte naturgemäß nur ein Zuhause auf Zeit, ab Juni wollen viele der Ukrainer in eine eigene Wohnung ziehen. Das breite Netzwerk – von Dolmetschern über entsprechend qualifizierte Lehrkräfte bis zum Gehörlosensportbund – sei ein gutes Argument für sie, weiter in Essen und Umgebung zu bleiben, sagt Kira Knühmann-Stengel. „Die Ersten haben wir schon in Wohnungen in Mülheim vermittelt.“

Ehrenamtliche helfen bei der Wohnungssuche

Sie hoffe nun, dass sich Privatvermieter oder Wohnungsgesellschaften, die freie Wohnungen mit sozialleistungskompatiblen Mieten, haben, bei ihr melden. Die Wohnungssuche, das Abtelefonieren von Vermietern könnten die gehörlosen Ukrainer nicht alleine stemmen. Auch für Angebote für die Erstausstattung von Bett bis Waschmaschine wäre sie dankbar. Kira Knühmann-Stengel, die mit einem gehörlosen Mann verheiratet ist und eine Dienstleistungsfirma für Gehörlose hat, freut sich auf Anrufe.