Mülheim. 1987 flog er vom Otto-Pankok-Gymnasium, nun dreht der Mülheimer Andy Brings dort ein Video. Eine heilsame Erfahrung nach grausamen Jahren.
Andy Brings hat es geschafft. Er hat die Schlüssel. Grinsend hält er den klimpernden Bund in die Handykamera, der ihm die Türen des Otto-Pankok-Gymnasiums öffnet. Seiner Ex-Schule, von der er im Sommer 1987 flog – nach zwei Mal Sitzenbleiben in der neunten Klasse. Er triumphiert: „Sechs Jahre bin ich mit Angst hierhin gelaufen, und jetzt das. Mehr geht nicht.“
Im Mai 2022 ist der Mülheimer Rockmusiker hier wärmstens willkommen, obwohl er erneut Umstände bereitet und den regulären Ablauf stört. Im OP, gleich auf mehreren Etagen, findet der Videodreh für „Rock’n’Roll“ statt, die neue Single von Andy Brings & Band. Der 50-Jährige trägt einen engen schwarzen Rollkragenpullover und stark deckendes Make-up, Schulleiter Jens Schuhknecht und sein Stellvertreter Ulrich Bender sprechen lächelnd von einer „Win-Win-Situation“. Dieses Wort war vor 35 Jahren noch nicht populär, und sowieso hätte es kein Otto-Pankok-Lehrer angesichts von Andy Brings verwendet.
Mülheimer Rockmusiker Andy Brings kehrt zurück an sein ehemaliges Gymnasium
Der Ehemalige fasst es so zusammen: „Als Schüler war ich nicht so viele Tage am Stück im Otto-Pankok wie jetzt vor dem Videodreh.“ Eine zweiwöchige „Orga-Schlacht“ habe er gemeinsam mit der Schulleitung bewältigen müssen, um unter anderem die Drehgenehmigung einzuholen, etliche Datenschutzerklärungen zu sammeln (denn es wirken auch Kinder und Jugendliche mit), um tausend technische Fragen zu klären.
Nun läuft das Ganze als Schulprojekt, wie Ulrich Bender erläutert. Er hatte schon vor rund vier Jahren Kontakt zu Andy Brings, als der Film „Full Circle“ über dessen Leben entstand, in dem auch das tragische Kapitel Schule eine Rolle spielte. Bender war zur Premiere in der Essener Lichtburg eingeladen. Außerdem arbeitet eine langjährige Freundin von Brings als Lehrerin am OP. Der Videodreh wurde in den Musikunterricht der Jahrgangsstufen neun und zehn integriert. Jugendliche aus der Technik-AG schauten dem Team über die Schulter.
Schulleiter Schuhknecht: „Es geht auch um Trauma-Aufarbeitung“
„Andy Brings kam auf uns zu, und wir fanden die Idee spannend“, sagt Schulleiter Jens Schuhknecht. „Schließlich sind wir eine Kulturschule. Es geht aber auch um Trauma-Aufarbeitung. Unsere Schule zeigt sich hoffentlich völlig anders als früher.“ Gnädiger als in den Jahren 1981 bis ‘87, die Brings noch immer in den Knochen stecken.
Dieser findet, optisch habe sich das Otto-Pankok-Gymnasium nicht groß verändert, abgesehen von bunten Graffiti an den Wänden. Sogar einer seiner ehemaligen Lehrer unterrichtet noch, obwohl offiziell schon Pensionär. „Aber hier herrscht jetzt ein ganz anderes Klima. Ein Gefühl von Nähe und Augenhöhe. Früher hieß es: Mitmachen, Mund halten, Punkte sammeln.“
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Der Musiker, der als Performer gerne dick aufträgt und nie um eine Antwort verlegen ist, muss hier als Jugendlicher gelitten haben. Er zeichnet das Bild eines Jungen, der die Schule gefürchtet und Anwesenheit tunlichst vermieden habe, lieber abgehangen hat im Rhein-Ruhr-Zentrum oder im Sommer unten am Fluss. „Ich will das nicht glorifizieren“, stellt er klar, er sei auch kein Anführertyp gewesen, sondern „immer alleine“.
Vernichtende rote Anmerkungen im alten Deutschheft
Der Schwimmunterricht habe ihn regelrecht in „Todesangst“ versetzt, was offenbar an der sadistischen Ader des früheren Sportlehrers lag. Zum Beweis seines Leidens und Scheiterns hat Andy Brings angegilbte Klassenarbeitshefte dabei, als „ein Manifest der Vernichtung“ versteht er die Anmerkungen seines ehemaligen Deutschlehrers, der einen Rotstift an den Seitenrändern restlos entleert haben muss. „Ausgerechnet Deutsch, das Fach, das ich immer gemocht habe. Ich bin ein Mann der Sprache, doch das hat dieser Kollege anders gesehen.“
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Immerhin: Mit seinem uralten Löschblatt, das er aus einem der Hefte zieht, kann sich Andy Brings bis heute identifizieren. Bekritzelt ist es mit den Bandnamen Ramones, Mötley Crüe und dem kantigen Logo von Kiss, alles Künstler, die er lebenslang verehrt. Er selber sei „immer ein guter Junge“ gewesen, nie von der Polizei nach Hause ins Mülheimer Dichterviertel gefahren worden, nie den Drogen zugetan gewesen. Nur in der Schule eine krasse Fehlbesetzung: „Für mich selber war ich immer richtig. Aber hier war ich falsch.“ Die schlechten Noten, das dauernde Blaumachen habe er zu Hause, so gut es ging, verheimlicht. Beim zweiten Sitzenbleiben kam alles raus.
Schulleiter Jens Schuhknecht, fast im selben Alter wie Andy Brings, merkt an: „Heute wäre so etwas nicht mehr möglich. Es wäre sofort ein Thema, wenn einer wochenlang fehlt.“ Generell habe sich der Lehrerberuf verändert, es gehe nicht mehr nur um fachbezogene Wissensvermittlung, „sondern auch darum, den Jugendlichen ins Leben zu helfen“.
Musikvideo: „Die alten Säcke“ sitzen wieder im Klassenraum
Im Musikvideo von Andy Brings tritt seine Partnerin, die Make-up-Künstlerin Popo Chanel, als straff frisierte Lehrerin auf, konfrontiert mit „den alten Säcken“ (sprich: Bandmitgliedern), die schwarz gekleidet und sonnenbebrillt im Klassenraum hocken. Unvermeidlich bricht Chaos aus, gekrönt wird das Ganze mit einer kleinen Show vor Publikum im Forum des Gymnasiums, wo Kinder, Jugendliche, Fans die Band feiern.
Neues Album zum 51. Geburtstag
Andy Brings, in Mülheim geboren und verwurzelt, erarbeitete sich großen Respekt als OB-Kandidat. Bei der Kommunalwahl 2020 trat er für „Die Partei“ an, holte 6,1 Prozent der Stimmen und damit Platz sechs von insgesamt zehn Bewerberinnen und Bewerbern. Er ist jetzt Mitglied im Kulturausschuss.
Das neue Album von Andy Brings & Band, „Süden“, erscheint am 10. Juni - pünktlich zum 51. Geburtstag des Frontmanns. Es wurde mit Produzent Uwe Hoffmann an der Costa Blanca aufgenommen.
Brings nennt die spanische Mittelmeerküste seine „Seelenheimat“ und verbringt dort so viel Zeit wie möglich. Aus Mülheim wegziehen will er nicht: „Ich kann nicht abhauen.“
Dass er als Schüler am Berufskolleg das Fach Spanisch abgewählt hat, ärgert ihn - eine der wenigen Aktionen seiner Jugend, die Andy Brings offen bereut. Wenigstens schaffte er am Berufskolleg Lehnerstraße 1992 doch noch das Abitur.
Damit knüpft Andy Brings an eines der wenigen Highlights seiner Schullaufbahn an. 1983 habe die Band K.E.C.K. in der Aula gespielt, mit Suppi Huhn als Keyboarder. „Das war ein geiles Konzert.“ Der kleine Andy war tief beeindruckt und holte sich K.E.C.K.-Gitarrist Klaus Enkmann als Gitarrenlehrer ins Haus. Ehe er selber in seiner alten Schule die Bühne entert, sagt er: „Wenn ich heute nur bei einem Einzigen hier die innere Flamme anfache, dann ist meine Arbeit gemacht.“