Mülheim. Brieftaubenzucht hat eine lange Tradition, vor allem im Ruhrgebiet. Nun wurde sie bundesweit zum Kulturerbe erklärt – trotz großen Protests.
Alois Tack hat es sich in seinem Campingstuhl gemütlich gemacht. Die Sonne scheint an diesem Morgen in seinen Garten im Mülheimer Süden, im Hintergrund hört man das leise Gurren der Tauben. Plötzlich springt Tack auf, zeigt in den Himmel und ruft: „Da kommen sie!“
Sie, das sind die schnellsten Tauben seiner heutigen Reisemannschaft. Um exakt 9.25 Uhr haben die 70 Vögel ihren Flug in Eckenhagen bei Olpe angetreten – bei leichtem Westwind, blauem Himmel und Sonnenschein. „Die Flugbedingungen waren gut“, sagt Tack. Um 10.17 Uhr marschiert die erste Taube zurück in den heimischen Schlag. Im Minutentakt kreisen immer mehr Tiere über dem Grundstück. „Komm, komm“, ruft Tack ihnen zu.
Unesco ernennt Brieftaubenwesen zum Kulturerbe
„Das ist der Genuss des Taubensports: die Tauben kommen zu sehen“, sagt der Vorsitzende der „Reisevereinigung Mülheim/Angerland“. Er und die anderen Mitglieder des Vereins hatten im März dieses Jahres Grund zur Freude: Die Unesco hat das Brieftaubenwesen deutschlandweit zum immateriellen Kulturerbe ernannt.
„Bei der Weitergabe von Wissen und Können im Brieftaubenwesen geht es um das Zusammenleben von Mensch und Tier sowie das Wissen um das Verhalten, die Biologie und artgerechte Lebensweisen der Tauben“, heißt es dazu von der Unesco.
Mülheimer Züchter: „Brieftaubenzucht ist im Ruhrgebiet groß geworden“
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Das Problem aus Tacks Sicht: Es gibt immer weniger Menschen, an die er sein Wissen weitergeben kann. Denn während es in den 1960er-Jahren noch mehr als 100.000 Züchterinnen und Züchter in Deutschland gab, zählt der Verband Deutscher Brieftaubenzüchter heute nur noch an die 24.000 Mitglieder.
In Mülheim ist die Zahl der Züchterinnen und Züchter von rund 500 auf 50 geschrumpft. „Mit meinen 75 Jahren gehöre ich heute zur A-Jugend“, sagt Tack. „Dabei ist die Brieftaubenzucht im Ruhrgebiet groß geworden. Hier hatte früher jeder Zweite eine Taube.“ So auch Tacks Vater.
Brieftaubenzucht als „intensives, zeitaufwendiges Hobby“
Zum zehnten Geburtstag schenkte er seinem Sohn zwei Tauben. „Eine weiße und eine schwarze, damit ich sie schon in der Luft erkennen konnte“, erinnert sich Tack. Mit 14 Jahren trat er in den Verein ein, nach dem Tod seines Vaters übernahm er dessen Schlag.
Der Frage, wie viele Tauben er mittlerweile dort hält, weicht Tack aus. „Viel zu viele“, sagt er und lacht. Die Brieftaubenzucht sei ein „intensives, zeitaufwendiges Hobby“. Während Tack im Winter nur einmal pro Tag nach seinen Tieren sieht, verbringt er in der warmen Jahreszeit oft mehrere Stunden vor Ort.
Moderner Taubensport im Ruhrgebiet
„Das ist 3601. Sie hat leichte Tupfer im Gefieder. Da ist der Schimmel. Und das ist der Holländer, den habe ich im Internet ersteigert“, sagt Tack, als er im Stall steht und die Vögel nach ihrem Flug mit Futter versorgt. Er kann alle Tauben auseinanderhalten. Die meisten von ihnen nennt er nach ihrer „Personalnummer“.
„Ich muss eben durchzählen, ob auch alle hier sind“, so Tack. Eigentlich läuft das längst automatisch ab. Jeder Vogel trägt einen Transponderring am Bein. Die insgesamt sechs Antennen an Tacks Schlag registrieren, wann eine Taube zurückkehrt – und ermitteln dann automatisch die Fluggeschwindigkeit.
Kritik der Tierschützer: „Hunderttausende Tauben sterben auf Wettflügen“
Doch da eine seiner Antennen defekt ist, muss Tack die Vögel heute händisch erfassen – wie in alten Zeiten. Mindestens eine Taube fehlt noch, ist sich Tack nach kurzer Zeit sicher. Es sei keine Seltenheit, dass die Tiere während ihres Fluges von Greifvögeln angegriffen werden.
Das ist einer der Gründe, warum Tierschützerinnen und Tierschützer die Brieftaubenzucht kritisieren. „Hunderttausende Tauben sterben auf den Wettflügen jedes Jahr einen qualvollen Tod – durch Verdursten, Erschöpfung oder Verletzungen“, heißt es etwa von der Tierschutzorganisation Peta. Die Kritik führte 2018 dazu, dass ein erster Antrag, Brieftaubenzucht bundesweit als Kulturerbe auszuzeichnen, zunächst abgelehnt wurde.
Tauben werden wie Spitzensportler auf Flug vorbereitet
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Tack sieht den Vorwurf nicht bestätigt. Schließlich werde die Taube wie ein Spitzensportler auf den Flug vorbereitet, macht Trainingsflüge, bekommt Elektrolyte, dazu eiweißreiches Futter. Nach kurzer Zeit trifft die Taube, die Tack vermisst hat, am Schlag ein.
„Sie ist wohl etwas zu weit geflogen.“ Woher die Tiere überhaupt wissen, wo ihr Zuhause ist? Eine wichtige Rolle spielt dabei laut Tack die Sonne und der Erdmagnetismus. Aber ganz geklärt werden konnte die Frage bis heute nicht – trotz der jahrelangen Tradition der Brieftaubenzucht.
Immaterielles Kulturerbe
Ob Bräuche, Feste oder Handwerkskünste: Über 500 Formen des immateriellen Kulturerbes sind auf den internationalen UNESCO-Listen verzeichnet. Darunter etwa Yoga in Indien oder die Rumba aus Kuba.In Deutschland wurden neben der Brieftaubenzucht beispielsweise die Apfelweinkultur, die Trakehner-Zucht und die Genossenschaften zum Kulturerbe erklärt.