Mülheim. Der Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche erschüttert auch Mülheimer Christen. Einige haben deshalb ihrer Kirche den Rücken gekehrt.
Die jüngsten Erkenntnisse über die Missbrauchsfälle im Priesteramt und das damit offenbar gewordener Führungs- und Kontrollversagen einiger Bischöfe erschüttert auch die Mülheimer Basis der katholischen Kirche. Das zeigt eine nicht repräsentative Umfrage dieser Zeitung.
„Nach den neuesten Erkenntnissen über die Missbrauchsfälle im Erzbistum München-Freising liegt die katholische Kirche auf der Intensivstation und muss beatmet werden“, sagt der ehemalige Katholikenratsvorsitzende Wolfgang Feldmann. Den emeritierten Papst Benedikt fordert er nach seiner offensichtlichen Lüge auf, „das weiße Papstgewand abzulegen, weil man von einem Papst erwarten muss, dass er ohne Wenn und Aber die Wahrheit sagt – und das hat er nicht getan!“ Auch wenn der Dümptener aus der Gemeinde St. Barbara die offenen und reformorientierten Aussagen des Ruhrbischofs Franz-Josef Overbeck und seines Generalvikars Klaus Pfeffer begrüßt, und ein Kirchenaustritt für den gläubigen Christen keine Option ist, konstatiert Feldmann: „Die katholische Kirche ist zurzeit nur bedingt eine moralische Autorität.“
Lutz Gierig aus der Gemeinde St. Mariae Geburt hat seine Kirche angesichts der fortgesetzten Missbrauchsfälle vor einem Jahr verlassen. Als Psychotherapeut weiß er aus seiner beruflichen Praxis, welchen lebenslangen Schaden sexueller Missbrauch in einem Leben anrichten kann. Die Täter im Priestergewand müssen nach seiner Ansicht „nicht nur kirchenrechtlich, sondern strafrechtlich belangt werden.“
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In einem Unternehmen wäre ein Fehlverhalten, wie das Benedikts, so Gierig, „mindestens mit einer Abmahnung geahndet worden.“ Er fordert eine klare Trennung von Kirche und Staat und eine Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsfälle unter staatlicher und öffentlicher Aufsicht, etwa in Form einer parlamentarischen Untersuchungskommission.
Der in der Altenpflege aktive Peter Behmenburg aus der Gemeinde St. Mariae Geburt zeigt sich wenig überrascht: „Sexueller Missbrauch durch Priester war auch schon vor 40 Jahren bekannt. Aber die Reaktion der Kirche auf diese Missbrauchsfälle ist beschämend.“ Aus Sicht des früher in der kirchlichen Jugendarbeit engagierten Peter Behmenburg „müssen die Bischöfe ihre Macht und ihre Privilegien abgeben und der Pflichtzölibat für Priester abgeschafft und Frauen zum Priesteramt zugelassen werden.“ Ein Kirchenaustritt wäre für ihn keine Option, „da ich mich in meiner Gemeinde gut aufgehoben fühle und aus meinem Glauben Kraft schöpfe, die nicht vom Fehlverhalten einiger Kirchenmänner abhängig ist“.
Frauen sollten Zugang zum katholischen Priesteramt bekommen
Der Arzt und ehrenamtliche Kirchenvorstand von St. Mariae Geburt, Dr. Michael Otto, sagt: „Ich lasse mir meinen Glauben, der mir in schwierigen Lebenssituationen geholfen hat, nicht vom Fehlverhalten einiger Priester und Bischöfe kaputt machen. Ich bleibe auch deshalb in der Kirche, weil sie unter anderem mit der Caritas im Geiste des Evangeliums sinnvoll tätig ist. Aber ich erwarte von meiner Kirche, dass sie den Missbrauchskandal, der seit mehr als zehn Jahren diskutiert wird, im Gespräch mit den betroffenen Opfern löst und auf deren Bedürfnisse eingeht.“
Johannes Brands aus der Gemeinde St. Barbara und ehrenamtlicher Mitarbeiter der katholischen Ladenkirche meint: „Wir waren nicht achtsam genug, was einige unserer Priester und Bischöfe getan haben. Wir als Kirche müssen ganz demütig werden und ins Evangelium schauen, um zu entdecken, wie Kirche gehen kann und was Kirche sein kann, und wir müssen die Reformbewegung Maria 2.0 unterstützen, damit die selbstverständlich ebenfalls weihefähigen Frauen in der Katholischen Kirche Zugang zum Priesteramt bekommen.“
„Es ist erschreckend, dass bis in die obersten Reihen der katholischen Kirche gelogen worden ist. Die Kirche kann nicht mehr auf dem hohen Ross sitzen. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Und weil ich glaube, dass die Mehrheit der katholischen Priester sich nichts zuschulden hat kommen lassen, wäre ein Kirchenaustritt für mich das falsche Signal. Und deshalb werde ich auch jetzt nicht religiös fahnenflüchtig.“, unterstreicht der ehrenamtliche Caritasvorstand Paul Heidrich aus St. Mariä Himmelfahrt.
Mülheimer Christen fordern einen „glaubwürdigen Neuanfang“
„Die frohe christliche Botschaft ist mir zu wichtig und richtig, als dass ich aus der Kirche austreten könnte und damit all diejenigen alleine lassen würde, die in der Kirche Gutes tun“, betont der ehrenamtliche Kirchenvorstand von St. Mariae Geburt, Markus Püll.
Christa und Hans-Theo Horn aus St. Mariä Himmelfahrt, die sich ehrenamtlich in der Caritas engagieren, glauben, dass die katholische Kirche nach dem auch sie tief erschütternden und beschämenden Missbrauchsskandal „nur in einem neuen ökumenischen Haus der Kirche einen glaubwürdigen Neuanfang schaffen kann, in dem die gleichen Gesetze der Gewaltenteilung gelten wie in unserem demokratischen Rechtsstaat.“
„Schlimmer geht’s nimmer“, kommentiert die ehrenamtliche Leiterin der Pfarrbücherei von St. Mariä Himmelfahrt, Hetty Reinke, die jüngsten Skandale in ihrer Kirche. Aus ihrer Kirche austreten will die gläubige Christin nicht. Aber sie erwartet, „dass der jetzt eingeschlagene Weg zu konkreten Ergebnissen und zu einer Kirche führt, in der es mehr engagierte und glaubwürdige Seelsorger gibt, die in einer verständlichen Sprache von der frohen Botschaft Jesu sprechen können.“
Glaube ist nicht an das Bodenpersonal der Kirche gebunden
Maria Valkyser, die sich in ihrer Gemeinde St. Mariae Geburt als Gottesdiensthelferin engagiert, sagt: „Ich ärgere mich unheimlich, aber mein Glauben an Gott und Jesus Christus, der in der Kirche Menschen um sich versammelt hat, ist nicht an das Bodenpersonal der Kirche gebunden.“
„Der Missbrauchsskandal in unserer Kirche spielt bei den Jugendlichen, die zu uns ins Haus kommen, keine Rolle, weil sie sich hier in ihrer Gruppe und in ihrer Gemeinde gut aufgehoben fühlen und sich auch gerne engagieren“, berichtet die Jugendheimleiterin der Pfarrgemeinde St. Mariä Himmelfahrt, Renate Schlieper. Ein Kirchenaustritt käme für sie nicht infrage, „weil die Kirche meine geistige Heimat ist.“ Aber sie hat Verständnis für die, die diesen Weg gehen. Schlieper fordert eine konsequente Schulung und Sensibilisierung aller kirchlichen Mitarbeitenden, um weitere Missbrauchsfälle zu verhindern.
„Ich bin und bleibe Christ. Aber ich habe die katholische Kirche vor einem Jahr verlassen“, sagt der Jazzmusiker Manfred Mons aus der Pfarrgemeinde St. Mariä Geburt. Nicht nur die Missbrauchsfälle, sondern auch die Geldverschwendung durch den Limburger Bischof Tebartz van Elst, Kindstötungen in einer kanadischen Klosterschule, die Veruntreuung von Mitteln aus dem Peterspfennig für Immobiliengeschäfte durch einen Kardinal, millionenschwere Rechtsgutachten für den Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki und vergleichsweise wenig Geld für die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Priester, haben für Mons das Fass zum Überlaufen gebracht.
Eine „Rosskur“ wird für die Katholische Kirche gefordert
„Die Kirche braucht eine Rosskur und muss von unten ganz neu aufgebaut werden. Die schuldig gewordenen Bischöfe sollten geschlossen zurücktreten. Der ehemalige Papst Benedikt, der nicht nur gelogen hat, sondern auch einen des Missbrauchs überführten Priester weiter als Seelsorger eingesetzt hat, ohne die betroffenen Gemeinden über sein Vorleben zu informieren, sollte aus der Kirche ausgeschlossen werden“, fordert Mons.
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„Wenn ich heute in eine Kirche käme, in der Kardinal Marx die Messe feiert, würde ich wieder rausgehen“, sagt Margit Magduschewski aus St. Mariae Geburt. Die pensionierte Fachkrankenpflegerin hat in der stationären Psychiatrie erlebt, wie ein sexueller Missbrauch Menschen zerstören kann, „Auch wenn ich früher kirchliche Jugendarbeit gemacht habe und mit Priestern auch viel Gutes erlebt habe und viele gute Pfarrer kenne, ringe ich noch mit mir, ob ich in der Kirche bleiben oder austreten soll“, räumt Magduschewski ein. Sie glaubt, dass Jesus, wie einst die Händler im Tempel heute „viele schuldig gewordene Priester und Bischöfe aus der Kirche werfen würde.“
Kirchenaustritte
Die Direktorin des Amtsgerichtes, Susanne Galonska-Bracun, teilt auf Anfrage dieser Zeitung mit, dass im Monat Januar (Stichtag 26. Januar) 61 von 87 vollzogenen Kirchenaustritten auf das Konto der Katholischen Kirche gehen. Terminengpässe bei der Kirchenaustrittsstelle gibt es demnach aber nicht.
2021 traten nach Auskunft des Amtsgerichtes 1080 Menschen aus ihrer Kirche aus, darunter 614 katholische Christen. 2020 verzeichnete das Amtsgericht in Mülheim 688 Kirchenaustritte, von denen 346 zu Lasten der katholischen Kirche gingen.
Der katholische Christ Dr. Stefan Pätzold, den viele Mülheimer als Leiter des Stadtarchivs kennen, unterstreicht: „Die Missbrauchsfälle sind abscheulich und kriminell. Aber ich habe auch viele Priester kennengelernt, die sehr segensreich wirken. Und ich sehe die Kirche als eine ethisch und sozial für unsere Gesellschaft unverzichtbare Institution.“
Die Priester müssen sich viel stärker zu Wort melden
Für Pit Arnsfeld aus St. Mariae Geburt und seine evangelische Frau Doris steht fest: „Die Katholiken haben einfach viel zu brav hingenommen, was ihre Priester und Bischöfe getan oder gelassen haben. Vor allem die Priester, die hauptamtlich für die Kirche arbeiten, müssen sich viel stärker zu Wort melden, um die Kirche von Grund auf zu erneuern.“