Mülheim. . Die Kirche habe Täter geschützt und die Opfer im Stich gelassen. „Hier haben wir gesündigt“. Ruhrbischof sieht Kirche in einer „Zeitenwende“.

Zur Vorbeugung von sexuellem Missbrauch fordert Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck deutliche Reformen in der katholischen Kirche. „Der Missbrauchsskandal ist für die Kirche eine Zeitenwende“, sagte Overbeck vor knapp 400 Gästen in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. Die Kirche könne nicht weitermachen wie bisher. Sie müsse jetzt „mit Konsequenzen“ über Themen wie Zölibat, Homosexualität, Machtstrukturen und Klerikalismus reden. Auch der Zugang zu Ämtern und Diensten für Frauen gehöre auf den Tisch.

Der Bischof rang sichtlich nach Worten, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. „Es gehört zu meinen erschütterndsten Erfahrungen, mit den Opfern von sexuellem Missbrauch gesprochen zu haben“, sagte Franz-Josef Overbeck bei einer Diskussionsveranstaltung zur jüngst veröffentlichen Missbrauchsstudie in der katholischen Kirche. „Es macht fassungslos und sprachlos“, sagte Overbeck und fügte an: „Hier haben die Kirche und die Bischöfe eine Schuldgeschichte“.

Bischof sieht „Vertrauenskrise extremsten Ausmaßes“

Als einen Schritt auf die Opfer zu und auf dem Weg zu einer anderen, barmherzigeren Kirche sollte die Diskussion in der Akademie „Wolfsburg“ in Mülheim wohl verstanden werden. Overbeck ist nach Angaben des Bistums bundesweit der erste Bischof, der sich der öffentlichen Debatte über den sexuellen Missbrauch stellt und Konsequenzen fordert. „Der Missbrauch hat zu einer Vertrauenskrise extremsten Ausmaßes geführt“, betonte der Ruhrbischof.

Es hat lange gedauert, bis die katholische Kirche an diesem Wendepunkt angekommen ist. Acht Jahre ist es mittlerweile her, dass der systematische Missbrauch am katholischen Canisius-Kolleg bekannt wurde. Es gab einen öffentlichen Aufschrei, und die Kirche sah sich im Zentrum eines Skandals. Nachdem eine erste Untersuchung abgebrochen wurde, veröffentlichte ein Team von Forschern anlässlich der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda im September 2018 eine umfassende Studie zum „Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und Ordensangehörige.“

Wahre Zahl der Opfer dürfte weit höher liegen

Bei der Auswertung von mehr als 38.000 Personal- und Handakten aus 27 Diözesen kam ans Licht, dass zwischen 1946 und 2014 mindestens 1670 katholische Kleriker 3677 Minderjährige, in der Mehrzahl Jungen, missbraucht haben sollen. „Dies ist ein Schätzwert“, betonte einer der Studienautoren, der Heidelberger Psychologe Eric Schmitt, in Mülheim. „Und zwar eine niedrige Schätzung.“ Denn nicht alle Diözesen stellten sämtliche Akten zur Verfügung, zudem wurden Daten vernichtet oder verfälscht.

Mehr als 200 Interviews haben die Wissenschaftler mit den Betroffenen geführt, erklärte der Psychologe Andreas Kruse, der ebenfalls an der Studie mitwirkte. „Die Menschen wollten mit uns reden, damit sich etwas in der Kirche ändert“, sagte er und mahnte Veränderungen an: „Die Vorbeugung muss besser werden. Die Kirche muss über Machtstrukturen, Zölibat und Homosexualität reden.“ Auch in der Auswahl der Priester müsse die Kirche gewissenhafter werden.