Mülheim. Volkswirtschaftlich und ökologisch kann sich der Gratis-ÖPNV rechnen. Einige Kommunen probieren ihn just aus. Was Mülheim daraus lernen kann.

Man stelle sich vor: Die Haltestelle ist wenige Gehminuten entfernt, der Nahverkehr kommt alle zehn Minuten und beim Einsteigen zeigt man allenfalls seinen Perso – denn der ÖPNV ist für Mülheimer „kostenlos“. Reine Utopie? Zumindest in anderen Städten wie Monheim nicht. Dort investierte die Stadt kräftig in Bus und Bahn mit Erfolg. Selbst in Corona-Zeiten wurde der Nahverkehr stärker genutzt als etwa in Mülheim und entlastete die Straßen. Wäre der Nulltarif auch ein Modell für die Ruhrstadt?

Volkswirtschaftlich gerechnet schon: Rund 25 Milliarden Euro kostet der Nahverkehr in der gesamten Bundesrepublik – die Tickets, Werbung und Pacht finanzieren davon gerade einmal ein Drittel, also neun Milliarden Euro. Die restlichen Kosten von etwa 16 Milliarden Euro werden ausgeglichen durch ein komplexes Geflecht aus Mitteln des Bundes, Landes und der Kommunen.

Finanzierung über Fahrkarten steht als ,ÖPNV-Bremse’ in der Kritik

Etwa 1,3 Milliarden Euro nimmt der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) über Tickets ein, „diese Mittel fehlen beim kostenlosen ÖPNV in der Investition und im Betrieb“, sieht ein Sprecher des VRR „Bund, Länder und die kommunalen Gebietskörperschaften“ in der Pflicht „diesen Nahverkehr dauerhaft und nachhaltig finanzieren“.

Doch dieses Modell der „Nutzerfinanzierung“ des Nahverkehrs steht seit Jahren in der Kritik. Denn zum einen blockiere der nur kostendeckende Ansatz über Fahrkarten den Ausbau des ÖPNV, zum anderen seien Umweltkosten und Investitionen in den Straßenbau nicht einbezogen. Über Streichungen von Subventionen beim Diesel (8 Mrd.), Luftverkehr (12 Mrd.) sowie Steuervorteilen für Dienstwagen (3 Mrd.), Pendlerpauschale (5,1 Mrd.) und verzichtbare Straßenbauprojekte (2 Mrd.) – so das Argument – hätte der Staat jedoch die Mittel, um den Nahverkehr sogar attraktiv auszubauen.

Lokal hatten eine Duisburger Initiative von Attac, Linke und anderen im vergangenen Kommunalwahljahr noch eine solche volkswirtschaftliche Berechnung des ÖPNV gefordert.

Mülheim zahlt 1,30 Euro pro Fahrt im Jahr für den ÖPNV

In Mülheim indes wird ein kostenloser ÖPNV als Anreiz für die Verkehrswende so gut wie nicht diskutiert. Im Fokus stehen das Optimieren und Sparen von Angeboten. Einzig für die SPD hatte deren verkehrspolitischer Sprecher Daniel Mühlenfeld verschiedentlich auf die volkswirtschaftlichen Aspekte eines ausgebauten Nahverkehrs hingewiesen.

Zu mächtig scheint das Defizit von jährlich rund 32 Millionen Euro (Stand 2019), das die Ruhrbahn für Mülheim jährlich einfährt. 1,30 Euro zahlt die Stadt pro Fahrt, rechnet Kämmerer Frank Mendack vor, angesichts von 25 Mio. Fahrten. Doch würden mehr Fahrten auch höhere Kosten bedeuten? Schließlich fahren leere Busse genauso teuer wie volle.

Und an den immensen Fixkosten änderten mehr Fahrten wohl wenig: Allein der Materialaufwand macht 53 Millionen Euro aus, darin versenkt ist auch der immens teure Unterhalt der Bahntunnel unter Mülheim.

Warum Monheim den kostenlosen ÖPNV testet

Vorstoß der Linken im Bund abgelehnt

Im März 2018 hatte die Fraktion „Die Linke“ im Bundestag den Antrag „Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr schrittweise einführen“ gestellt.

Der federführende Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfahl im April 2019 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, AfD und FDP die Ablehnung des Antrags. Die Grünen hatten sich enthalten. Der Antrag wurde gemäß Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses im Oktober 2019 durch den Bundestag abgelehnt.

Andere Kommunen testen den Gratis-ÖPNV längst aus: Die Stadt Monheim nimmt seit 2020 pro Jahr und Einwohner etwa 66 Euro in die Hand, um einen kostenlosen Nahverkehr im Stadtgebiet anzubieten. Und sie bezuschusst Abo-Tarife, die über die Stadt- und Tarifgrenze hinausgehen, etwa nach Düsseldorf. Drei Millionen Euro jährlich legt der dortige Kämmerer für Gratis-Fahrten mit dem „Monheim-Pass“ hin. Und leistet sich nebenbei noch einen zweiten Geschäftsführer für den Verkehrsbetrieb.

Natürlich ist die Stadt mit etwa 44.000 Einwohnern deutlich kleiner als Mülheim. Und überdies ist die „Steueroase“ alles andere als hoch verschuldet. Doch lohnt sich das? Aus Sicht von Detlef Hövermann, einer der Geschäftsführer der Bahnen Stadt Monheim (BSM), ist das keine Frage: „Es passt zu dem, was die EU mit den Klimazielen erreichen will.“ In Corona-Zeiten sei zudem der Verlust an Fahrgästen mit nur 24 Prozent deutlich unter den Einbrüchen geblieben, die andere Kommunen erlebt haben.

Auch in Mülheim wäre ein Anfang mit teilweiser Freigabe denkbar

Doch daran zeigt sich auch der Haken: das Angebot. Monheim hatte den ÖPNV seit 2016 ausgebaut, Linien eingeführt, Takte auf zehn Minuten verstärkt. „Der Fahrgast sollte nur wissen, wo er hin will und einsteigen“, berichtet Hövermann von einem Ausbau um 50 Prozent. Der Nahverkehr sei nicht attraktiv, wenn die Busse ständig voll seien. Erst dann hatte man Strecken probeweise gratis angeboten und die Resonanz bewertet, „das ,Kostenlos’ kam erst zum Schluss“.

185 Euro pro Kopf kostet der Nahverkehr in Mülheim jedes Jahr – das Dreifache von Monheim – und ist damit Spitze im Ruhrgebiet. Keine Chance für einen kostenlosen ÖPNV? Hövermann könnte sich vorstellen, dass man auch hier im Kleinen anfangen und bestimmte Linien zu gern besuchten Zielen freigeben könnte. Oder zu bestimmten Uhrzeiten – etwa abends – wenn Kapazitäten ohnehin vorhanden sind, „das wäre ein tolles Instrument, um auszuprobieren, ob sich die Nutzung erhöht“.

Wie man Kosten dämpfen könnte, das macht die Stadt Tübingen vor. Dort rechnet man für einen kostenlosen Samstag mit 260.000 Euro im Jahr. Um den Betrag auszugleichen, haben sie unter anderem einen Vorschlag: eine deutliche Erhöhung der Gebühr für öffentliche Stellplätze.