Mülheim. . Die Ruhrbahn sucht nach Alternativen zum kostenlosen ÖPNV. Die Idee: Mit vergünstigten Tickets Neukunden zum Umsteigen zu bewegen.

Mit der Ankündigung, in fünf Städten den kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) testen zu wollen, überraschte die Bundesregierung Anfang des Jahres Verkehrsunternehmen und Fahrgäste. Ein lange gehegter Traum einiger Nahverkehr-Enthusiasten schien zum Greifen nah. Doch daraus wurde nichts. Die fünf Städte Bonn, Essen, Herrenberg (Baden-Württemberg), Reutlingen und Mannheim lehnten es ab, den kostenlosen ÖPNV auszuprobieren. Zu illusorisch, zu teuer und somit nicht umsetzbar, lautete der Tenor der Städte.

Die Serie „Mobilität Mülheim – Zukunft in Bewegung“ beschäftigt sich mit den Verkehrsthemen der kommenden Jahre.
Die Serie „Mobilität Mülheim – Zukunft in Bewegung“ beschäftigt sich mit den Verkehrsthemen der kommenden Jahre. © Oliver Schäfer

Kritik äußert auch Nils Hoffmann, Bereichsleiter Markt & Kommunikation der Ruhrbahn. „Ein kostenloser Nahverkehr ist möglich, aber sinnlos“, sagt er und rechnet vor: „Wir hätten 26 Millionen Euro weniger Einnahmen im Jahr, um gerade mal drei Prozent der Kosten unserer Dienstleistungen einzusparen.“

An der Komfortschraube drehen

Nils Hoffmann von der Ruhrbahn.
Nils Hoffmann von der Ruhrbahn. © Socrates Tassos

Doch wie war es überhaupt zu der Idee gekommen, in Essen den kostenlosen ÖPNV zu testen? „Es ging gar nicht um den Nahverkehr, sondern um eine Geste des guten Willens“, sagt Hoffmann. Es begann mit einem Brief dreier Bundespolitiker an die EU-Kommission im Februar 2018. Die damalige Umweltministerin Barbara Hendricks, der damaligen Chef des Bundeskanzleramts, Peter Altmaier, und der damalige kommissarische Verkehrsminister Christian Schmidt versuchten eine drohende Klage gegen Deutschland wegen zu schlechter Luftqualität zu verhindern.

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Neben mehr Initiativen für Carsharing wurden in dem Brief bereits die fünf Modellstädte genannt, die den kostenlosen ÖPNV testen sollen. Alle Mühen waren letztlich umsonst: Im Mai reichte die EU-Kommission Klage beim Europäischen Gerichtshof ein. Nils Hoffmann von der Ruhrbahn ärgert nicht nur das Schnellschuss-Verhalten der Bundesregierung, sondern auch die Einseitigkeit der Debatte: „Der kostenlose ÖPNV allein greift zu kurz. Man muss an der Komfortschraube drehen, damit sich etwas tut.“ Zusätzlich habe es noch ein weiteres Problem gegeben: Während Essener Fahrgäste kostenlos hätten fahren können, hätte Mülheim davon nichts gehabt. Wie man Pendler hätte abrechnen sollen, die von Essen nach Mülheim oder umgekehrt unterwegs sind, sei nie geklärt worden.

Befürworter verweisen auf Tallinn

Befürworter des kostenlosen Nahverkehrs verweisen häufig auf Estlands Hauptstadt Tallinn. Dort ist für Einwohner das Busfahren seit 2013 kostenlos. Touristen müssen hingegen weiterhin zahlen. Finanziert wird das System unter anderem durch Steuermehreinnahmen, dank neu hinzugezogener Einwohner. Die Stadt verzeichnet seitdem einen Anstieg der Fahrgastzahlen von etwa zehn Prozent. „Landbewohner können dort nicht auf ihr Auto verzichten. Denn sobald man aus der Stadt raus ist, steht man mitten im Grünen“, sagt Hoffmann.

Der Vorschlag zum kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr scheiterte.
Der Vorschlag zum kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr scheiterte. © Oliver Müller

Als Hauptargument für den kostenlosen ÖPNV wird immer wieder die steigende Luftqualität genannt. Denn weniger Autos auf der Straße erzeugen weniger Abgase. Klingt erst einmal logisch, doch eine Studie der Technischen Universität Dortmund kommt zu einem ganz anderen Schluss: Ein kostenloser ÖPNV habe so gut wie keine Auswirkungen auf die Luft.

In einer Simulation untersuchten die Forscher, welche Folgen verschiedene Änderungsszenarien im Verkehr haben und verglichen sie miteinander. Sie fanden heraus, dass höhere Kosten für das Auto und eine Verlangsamung des Autoverkehrs sich nachhaltiger auf den Verkehr und die Luftqualität auswirken als ein kostenloser Nahverkehr. In Tallinn ist die Luft nicht besser geworden, seit die Einwohner dort kostenlos Bus fahren dürfen.

Debatte war nicht umsonst

Dennoch war die Debatte im vergangenen Frühjahr nicht umsonst: Die fünf Modellstädte planen nun, statt einer kostenlosen Nutzung der Busse und Bahnen stark vergünstigte Tickets anzubieten, um Autofahrer zum Umsteigen auf den ÖPNV oder das Rad zu bewegen. Dazu bekommt Essen insgesamt 21 Millionen Euro Fördermittel aus Berlin. Ein großer Teil davon geht an die Ruhrbahn. Diese kündigte an, ab dem 1. Januar 2019 vergünstigte Tickets anzubieten. Das betrifft vorrangig Abonnements. So soll ab dem kommenden Jahr ein 24-Monats-Ticket für die Hälfte des Preises erhältlich sein. Außerdem gibt es Rabatte auf Firmentickets.

Die Ruhrbahn hatte laut Hoffmann mehrere Vorschläge gemacht, über die in Berlin nun entschieden wurde. Mülheimer hätten jedoch nur etwas davon, wenn sie regelmäßig nach Essen pendeln. „Das Kernnutzungsgebiet des Tickets muss in Essen sein“, so Hoffmann. Und auch hier gibt es Einschränkungen: Die vergünstigten Fahrscheine gibt es nur für Neukunden – Stammkunden gehen leer aus.

„Die Ruhrbahn ist Mitglied im VRR. Wir können uns nicht einfach aus dem Bedienungsgebiet ausklinken und eine kostenlose Insel mitten drin erschaffen. Das Angebot muss tarifkonform sein“, sagt er. Mülheims OB Ulrich Scholten kündigte an, in den kommenden Wochen ein Gespräch mit Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen zu diesem Thema führen zu wollen. Darin solle versucht werden, eine Lösung für Mülheim zu finden.

In welchen Städten das Konzept scheiterte 

Schon 1998 gab es in Deutschland den ersten Versuch, den kostenlosen ÖPNV zu etablieren. Die brandenburgische Kurstadt Templin schaffte alle Fahrscheine ab, um die Luftqualität und die Mobilität ihrer 16 000 Einwohner zu verbessern. Kein leichtes Unterfangen, denn es musste ein sehr großes Gebiet abgedeckt werden. Obwohl die Kleinstadt in der Uckermark gerade mal so viele Einwohner hat wie Mülheim-Styrum, ist sie in der Fläche größer als Dresden.

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In © dpa

Zuerst schien der Erfolg dem Modell in Templin recht zu geben, denn die Fahrgastzahlen stiegen stark an. Immer mehr Menschen benutzten den Bus statt das Auto. Doch die Nutzung explodierte nach drei Jahren nahezu und stieg, verglichen mit der Zeit vor der Reform, auf das 15-fache. Das Busunternehmen, die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft, konnte die hohe Nachfrage trotz Zuschuss nicht mehr bedienen und die Kosten nicht decken.

2003 dann stellte die Stadt den kostenlosen ÖPNV wieder ein. Seitdem müssen Fahrgäste wieder zahlen, allerdings deutlich weniger, als üblich. Kurgäste fahren weiterhin kostenlos, Einwohner Templins zahlen 44 Euro im Jahr. Die Stadt gibt einen Zuschuss von rund 130 000 Euro jährlich, damit die Preise stabil bleiben.

Finanzielle Lage erlaubte es nicht, Umgehung zu bauen

Hasselt in Belgien führte den kostenlosen ÖPNV 1997 ein. Grund dafür war in erster Linie die finanzielle Notlage der Stadt, die es nicht erlaubte, einen Umgehungsring zu bauen. Begleitet wurde das Projekt von einer groß angelegten Imagekampagne, in der zum Beispiel aufgerechnet wurde, wie teuer ein Kilometer mit dem eigenen Auto ist. Die Innenstadt blühte in der Folge auf: Es entstanden mehr Arbeitsplätze, die gleichzeitig für mehr Umsatz sorgten. Parkgebühren wurden für die Finanzierung des Projekts ausgegeben. Als diese durch weniger werdende Autonutzung immer weiter wegbrachen, beschloss die Stadt 2013, wieder Geld für das Busfahren zu verlangen.

Einige Städte lassen sich von diesen Negativbeispielen nicht abschrecken. In Tübingen zum Beispiel ist das Busfahren seit Anfang des Jahres jeden Samstag kostenlos. Anlass ist die Sanierung eines Parkhauses in der Innenstadt, wodurch viele Parkplätze wegfallen. 20 Monate sind für die Arbeiten geplant. Bis dahin, so hofft Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), kann die Finanzierung gestemmt werden. 2019 sollen die Bürger darüber abstimmen, ob der ÖPNV komplett kostenlos sein soll. Die Stadt hat bereits das Land Baden-Württemberg und den Bund um Finanzierungshilfe gebeten.

>> Glossar

VRR steht für den Verkehrsverbund Rhein-Ruhr. 38 Nahverkehrsunternehmen haben sich zu diesem Verbund zusammengeschlossen, darunter auch die Ruhrbahn. Das Bedienungsgebiet reicht von Kleve bis Hagen und von Dorsten bis Monheim. Bei allen 38 Mitgliedern sind die Tarife gleich.

Ruhrbahn ist das Nahverkehrsunternehmen für die Städte Mülheim und Essen. Sie ging am 1. September 2017 aus der Fusion der Essener Verkehrs AG und der Mülheimer Verkehrsgesellschaft hervor.

Carsharing (auf Deutsch: „Geteiltes Auto“) bezeichnet das gemeinschaftliche Nutzen eines Autos. In Mülheim gibt es bisher nur recht wenige Unternehmen, die diese Dienstleistung anbieten (siehe vorherige Folge dieser Serie).

Tallinn ist die Hauptstadt von Estland. Sie hat etwas mehr als 413 000 Einwohner und liegt im Norden des Landes direkt am Finnischen Meerbusen der Ostsee.