Mülheim. Ein Fünftel weniger Operationen, aber mehr dramatische Fälle verzeichnet das Mülheimer Gefäßzentrum. Covid-Patienten erleiden oft Thrombosen.
Die Corona-Pandemie hat die Arbeit im Gefäßzentrum am Evangelischen Krankenhaus (EKM) massiv beeinflusst. Dort wurde viel weniger operiert - und oft erst dann, wenn es schon höchste Zeit war. Doch einige Patienten hätten auch sehr davon profitiert, dass sie nicht auf dem OP-Tisch gelandet sind, erläutert Chefarzt Dr. Alexander Stehr im Interview.
Mülheimer Chefarzt: Viele Patienten immer noch massiv verunsichert
Die von ihm geleitete Klinik für Gefäßchirurgie ist mehrfach ausgezeichnet und gilt als erstklassige Anlaufstelle. Dennoch haben zahlreiche Kranke seit Ausbruch der Pandemie auf eine stationäre Behandlung verzichtet. „Als es noch keine Impfung gab, haben wir elektive Eingriffe auch nicht forciert“, berichtet Stehr. Alles, was aufschiebbar war, sollte besser warten. Nunmehr sei das Krankenhauspersonal zu 90 Prozent geimpft, „wir ermuntern die Patienten wieder, zu kommen. Aber viele Leute sind immer noch massiv verunsichert.“
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Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 verzeichnete das Mülheimer Gefäßzentrum 2020 einen Rückgang der stationären Patienten um 21 Prozent, mehr als ein Fünftel. Bei den ambulanten OPs seien es etwa 15 Prozent gewesen, so der Chefarzt. Die Lage habe sich inzwischen entspannt. „Im Moment arbeiten wir, unter anderem, das auf, was in der Pandemie versäumt wurde und nicht den Weg zu uns gefunden hat.“ Er hofft, im Frühjahr 2022 wieder zu einem normalen Betrieb zurückgekehrt zu sein.
Risiko Aneurysma: Hauptschlagader häufig schon geplatzt
Einige Dramen hätten sich mutmaßlich verhindern lassen, hätten die Betroffenen nicht gezaudert. Beispiel: Aortenaneurysmen, ein Behandlungsschwerpunkt des Gefäßzentrums am EKM. Die Betroffenen leiden an Aussackungen der Hauptschlagader und geraten in Lebensgefahr, wenn diese platzt. 2019 war dies bei 2,5 Prozent der Patienten der Fall, die Stehr und sein Team behandelt haben, in diesem Jahr befanden sich 14 Prozent der Kranken bereits in hochkritischem Zustand. „Für Aneurysmapatienten ist das verheerend“, sagt der Chefarzt. Es geht um Leben und Tod. „Sie müssen rechtzeitig behandelt und sorgfältig beobachtet werden.“ Mitunter sei das aufgrund der Pandemie versäumt worden.
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Anderes Beispiel: die periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK), bekannter als „Schaufensterkrankheit“, ein weiterer wichtiger Schwerpunkt des Mülheimer Gefäßzentrums. Hier sind die Patientenzahlen im stationären Bereich im Vorjahr um 17 Prozent zurückgegangen, „und es gibt“, so Stehr, „eine deutliche Verschiebung hin zu fortgeschrittenen Stadien, zu Patienten, die bereits Ruheschmerzen oder Defekte an den Füßen haben“.
Einige Amputationen hätten durch Vorsorge vermieden werden können
In knapp sieben Prozent der Fälle mussten Glieder amputiert werden, Zehen, im schlimmsten Fall Unterschenkel oder das gesamte Bein. Im Jahr 2019 lag der Anteil der OPs mit Amputationen bei diesem Krankheitsbild bei 6,2 Prozent. Statistisch keine krasse Steigerung, aber fatal für jeden einzelnen Betroffenen, dessen Amputation durch Vorsorge hätte vermieden werden können.
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Charakteristisch für die „Schaufensterkrankheit“, die durch Arterienverkalkung verursacht wird, ist aber auch dies: Betroffene können ihren Zustand selber beeinflussen. Bekannte Risikofaktoren für die Durchblutungsstörungen sind Rauchen, Diabetes, Bluthochdruck, Bewegungsmangel. Lange geht das relativ gut, erst im zweiten Stadium sind die Patienten von Schmerzen geplagt, wenn sie längere Strecken laufen.
Gehtraining statt OP - positiver Effekt der Pandemie
Hier kann ein verfrühter Eingriff problematisch werden, erläutert Dr. Stehr. Dass Operationen wegen der Pandemie verschoben wurden, sei für einige dieser Betroffenen sogar günstig gewesen. „Es war zum Wohl dieser Patienten, die oftmals verfrüht selbst auf eine operative Behandlung drängen.“ Denn sie mussten sich täglich tapfer auf die Beine machen. „Gehtraining ist wichtig, damit sich kleinere Adern rund um die verengte Arterie erweitern und Umgehungskreisläufe bilden können. In den Schmerz hineinlaufen, stehen bleiben, weiterlaufen - so kann man Umgehungskreisläufe verbessern, die deutlich verlängern und eine Operation vermeiden.“
Deutlich weniger Patienten
In der gefäßchirurgischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus (EKM) sind 13 Ärztinnen und Ärzte tätig.
Im Jahr 2019 wurden dort etwa 2500 Patienten stationär behandelt und 25.000 ambulant. Im ersten Corona-Jahr 2020 waren es stationär nur etwa 1900.
Rund 90 Prozent der Patientinnen und Patienten sind älter als 65 Jahre, „Tendenz steigend“, so der Chefarzt.
Das Team der Gefäßchirurgie ist häufig auch direkt an der Behandlung von Covid-Patienten beteiligt, die im EKM liegen. Denn das Virus greift vielfach auch die Blutgefäße an, führt zu Verschlüssen, Thrombosen, Komplikationen, längst nicht nur bei älteren Menschen. „Wir haben momentan eine Pandemie der Jüngeren, Ungeimpften“, stellt der Chefarzt fest.