Essen. Aus Angst vor Corona-Ansteckung gehen Essener oft zu spät zum Arzt. Fatale Folge: mehr Amputationen. Ein Gefäßchirurg erklärt den Zusammenhang.
Seit Beginn der Corona-Pandemie ist die Zahl der vermeidbaren Amputationen gestiegen. Aus Angst vor einer Infektion mit dem Virus gingen Patienten und Patientinnen zu spät zum Arzt, sagt Prof. Dr. Johannes Hoffmann, Chefarzt für Gefäßchirurgie und Phlebologie am Essener Elisabeth-Krankenhaus. Schon vor einem Jahr hatte er gemahnt: „Es ist wichtig, dass Patienten bei Beschwerden zu ihrem Hausarzt gehen, im Notfall auch direkt in die Klinik.“
Fast 90 große Amputationen in einem halben Jahr
Dennoch habe sich der beunruhigende Trend fortgesetzt. „Vor Corona hatten wir im ganzen Jahr 40 bis 50 große Amputationen, bei denen Bein oder Unterschenkel abgenommen werden. Im ersten Halbjahr 2021 waren es bereits fast 90.“ Auch die Zahl der kleineren Amputationen – meist von Zehen – ist deutlich gestiegen: Bis 2019 waren es im Schnitt 117 pro Jahr, im ersten Halbjahr 2021 sind es schon 180.
Eigentlich werde in spezialisierten Gefäßkliniken viel weniger amputiert, die Amputation sei die letzte Maßnahme der Gefäßchirurgie: „Wir haben ein umfangreiches Waffenarsenal, um Gefäßprobleme zu behandeln.“ So könne man neben der klassischen Bypassoperation Gefäße etwa mittels Ballonanwendung weiten oder indem man Stents einsetze oder mit der „Tunnelbohrmaschine“ (Rotationsablation). Auch die Kombination von klassischer Operation und Aufdehnung – die „Hybridchirurgie“ – nehme im Elisabeth-Krankenhaus stark zu.
Schwarze Flecken am Fuß sind Warnsignale
Wichtig sei, dass Betroffene auf Alarmsignale wie schwarze Flecken am Fuß oder offene, nicht heilende Wunden reagierten. Viele behandelten solche Geschwüre selbst mit Salbe, Pflaster und Verband. „Dabei deuten chronische Wunden in zwei Dritteln der Fälle auf Gefäßprobleme hin.“ Also auf eine Gefäßschwäche, die dazu führt, dass die Unterschenkel nur mangelhaft durchblutet sind. Wer Warnsignale ignoriert, riskiert den Verlust der Zehen, des Schenkels oder des ganzen Beines.
Anzeichen für Schlaganfall oder Herzinfarkt nähmen die Leute auch in Pandemiezeiten ernst – wenn das Bein schmerze, warteten viele ab. „Man kann nicht nur an Herz sterben, man kann auch an Bein sterben“, mahnt Hoffmann plakativ.
Er wendet sich vor allem an Patientinnen und Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK) oder mit Diabetes. Letztere hätten kein oder kaum Schmerzempfinden in den Füßen und müssten diesen daher stets ihr Augenmerk widmen. „Die spüren nichts, wenn ihr Fuß hochentzündet ist.“ Komme es zu einer Blutvergiftung, könne oft nur noch die Abnahme des Beines ihr Leben retten. Gleiches gilt, wenn die Wunde besonders tief ist. „Wenn es die Sehnen oder den Knochen erreicht, ist das eine Katastrophe.“ Doch die Angst vor einer Ansteckung mit Corona halte ausgerechnet Diabetiker und PAVK-Patienten oft vom Arztbesuch ab: Weil ihr Immunsystem geschwächt ist, sind Virusinfekte für sie höchst gefährlich.
Hohe Sterblichkeit in der Folgezeit der Amputation
Die Ansteckungsgefahr in Praxen oder Kliniken sei Dank strikter Hygieneregeln jedoch derzeit gering. Die Folgen einer Amputation indes fatal: Die Hälfte der Patienten sterbe binnen eines Jahres nach der OP. Nur ein Fünftel werde nach der Abnahme von Unterschenkel oder Bein mit der Prothese wieder mobil. Für alte Menschen bedeute die Beinamputation meist den Verlust sozialen Lebens, Umzug ins Heim, Isolation: „Für viele ist die Amputation der Anfang vom Ende“, sagt Hoffmann.
Die eigenen Krampfadern als Gefäßersatz
Die Klinik für Gefäßchirurgie und Phlebologie im Elisabeth-Krankenhaus behandelt pro Jahr etwa 1500 Patienten stationär und gemeinsam mit dem MVZ an der Ruhrallee etwa 8000 Gefäßpatienten ambulant.Die Klinik versorgt – neben Aneurysma- und Halsschlagaderchirurgie – besonders viele Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit (PAVK). In täglichen Konferenzen mit Angiologen, Radiologen und Diabetologen im Haus führe man als zertifiziertes Gefäßzentrum alle Verfahren zur Durchblutungsverbesserung durch. Dabei gelte das Motto „maximal effektiv und minimal invasiv“.Die Gefäß- und Notfallambulanz ist von 8 bis 17 Uhr telefonisch erreichbar unter: 0201-897-3430. Bester Gefäßersatz seien übrigens die eigenen Venen, sagt Chefarzt Johannes Hoffmann: „Wenn die Krampfadern weg oder verödet sind, haben wir dieses Transplantat leider nicht.“ Wer Krampfadern aus rein kosmetischen Gründen entfernen lassen möchte, sollte darüber vielleicht noch einmal nachdenken.
Einer 89-Jährigen musste er dagegen kürzlich „nur“ den Zeh abnehmen. Anschließend konnten zwei verschlossene Arterien im Unterschenkel geweitet werden: Mit der verbesserten Durchblutung habe sich die Wundheilung sofort beschleunigt. So sei nicht nur das Bein gerettet worden: „Wenn sie im Herbst 90 wird, kann sie das mit ihren 22 Enkeln feiern.“
Selbst bei einer 96-Jährigen bejahte Hoffmann darum die Frage, ob man ihr eine Bypass-OP zumuten dürfe: Die ansonsten gesunde Dame habe sich selbst zu Hause versorgt und sei nach drei Wochen Klinikaufenthalt auch dahin zurückgekehrt. Auch bei ihr fiel zuerst eine chronische Wunde auf; ihre Kinder hätten das zum Glück ernst genommen, sich gekümmert.
Notfälle sind in 30 Minuten auf dem OP-Tisch
Hoffmanns dringender Appell ist, auch während der Pandemie rechtzeitig zum Arzt zu gehen; etwa bei Wunden, die nach vier Wochen nicht verheilt sind. Und wenn man einen akuten Schmerz im Bein spüre oder plötzlich nicht mehr laufen könne, deute das auf einen Gefäßverschluss hin; hier sei Eile geboten: „Wenn eine Schlagader über sechs Stunden verschlossen ist, ist es um ein Vielfaches schwieriger und gefährlicher, sie wieder zu öffnen. Dann müssen wir Amputationen durchführen, die man hätte vermeiden können.“
Auch wenn ein Fuß plötzlich eiskalt oder blau sei, müsse es schnell gehen: „Das weist auf eine Embolie hin: Der Patient gehört sofort in die Notfallambulanz.“ Von da kommt er in höchstens 30 Minuten auf den OP-Tisch.