Mülheim. Die Uraufführung von „Violetter Schnee“ am Mülheimer TAR zeigt Menschen im Lockdown. Warum Corona nicht der Auslöser war. Premiere am Freitag.

Sie stecken fest in diesem Haus, denn draußen scheint sich die Natur gegen sie verschworen zu haben – fünf Menschen im Lockdown, im Ausnahmezustand kreisen sie um sich selbst. Und die Nerven liegen allmählich blank. Hätte Vladimir Sorokin seine Protagonisten nicht in einen schier undurchsichtigen Schneeschleier gesetzt, es könnte auch die Pandemie beschreiben. Das ist aber nicht der Grund, warum Roberto Ciulli den Stoff für eine Uraufführung im Theater an der Ruhr (TAR) nutzte: Violetter Schnee.

Ciulli: „Es geht um alles, was wir gesellschaftlich und individuell falsch gemacht haben“

Denn es wäre nicht Ciulli, wenn es hier um die bloße Kommentierung aktueller gesellschaftlicher Prozesse ginge wie der „Covidschutzverordnung“ oder die „Beschneidung von Grundrechten“. Es ist vielmehr die grundsätzliche Frage, wie der Mensch zur Natur steht und damit auch zu sich, die Ciulli umtreibt: „Alles das, was wir falsch gemacht haben. Die fehlende Erkenntnis, das alles miteinander zusammenhängt.“ Mensch, Natur, Gesellschaft – Wissenschaft?

Menschen im Ausnahmezustand, und die Nerven liegen allmählich blank: „Violetter Schnee“ von Vladimir Sorokin hat im Theater an der Ruhr am Freitag Premiere.
Menschen im Ausnahmezustand, und die Nerven liegen allmählich blank: „Violetter Schnee“ von Vladimir Sorokin hat im Theater an der Ruhr am Freitag Premiere. © TAR | Franziska Götzen

Der systemkritische russische Autor Sorokin jedenfalls hatte sich einen sehr bunten Lockdown-Mikrokosmos vorgestellt: Jan, Jacques, Natascha, Peter und Silvia – die eine ist Musikerin, der andere Buchhändler, eine Hausfrau, ein Wissenschaftler. „Eine Mittelstandsgesellschaft“, beschreibt sie Ciulli, der den Stoff – anders als bisher geschehen – eben nicht wie in Berlin als apokalyptische Oper, sondern zum ersten Mal als eher stilles, manchmal klaustrophobisches und eben TAR-typisch traumhaftes Theater inszeniert hat: Zwischen nüchterner Bretterbühne, Holzstühlen, Tischen entfaltet sich die Fantasie.

Wie stellt man Schnee dar, wenn man ihn nicht zeigen kann?

Die große Herausforderung dieser Uraufführung? Der Schnee. Und das, wofür er steht, weil man ihn selbst nicht zeigt. „Der Schnee verändert die Zeit in einem Raum“, sagt Ciulli. So wird es darauf ankommen, über Stille, Zeitgefühl das zu vermitteln, was man nicht zu sehen bekommt. „Wir wollen, dass das Publikum meint, mit eingeschneit zu sein.“ Mitten im Sommer.

Was entdeckt die im eigenen Saft konservierte Mittelstandsgesellschaft in ihrem Mikrokosmos? Wie ihre Beziehungen brüchig werden, ihre Lebensweise bedrohlich wird, nicht nur, weil der Brei allmählich knapp wird. Aber eben auch, wie sich alles verändern könnte. Gewinnt am Ende also doch Erkenntnis? Und reicht Erkenntnis aus für eine nachhaltige Veränderung?

Damit gewinnt „Violetter Schnee“ überraschend doch wieder an Aktualität in Zeiten von Klimawandel, pandemiegeschüttelter „Normalität“ und Bundestagswahl. Die Antwort? Mal sehen.

Die Uraufführung von „Violetter Schnee“ feiert am Freitag, 3.9., Premiere, dann wird auch Autor Vladimir Sorokin mit dabei sein. Weitere Termine gibt es ausschließlich im September: am 4. und 5.9., 8. bis 10.9., 12.9. sowie 17. und 18. September. Die Sitzplätze sind auf 87 begrenzt, um Abstand zu gewährleisten. Es gelten die 3G-Regeln. Karten: 0208 - 599 01 88 sowie www.theater-an-der-ruhr.de