Mülheim. In keinem anderen Mülheimer Stadtteil ist die Inzidenz so hoch wie in Styrum. Dabei wollte man hier schon im Frühjahr gegensteuern. Wo hakt es?
Jetzt sind sie wieder da, die hohen Inzidenzen in einigen Mülheimer Stadtteilen. Am Donnerstagmorgen vermeldeten RKI und Kommune einen stadtweiten Wert von 109,4. In Styrum lag er mit 300,2 schon wieder deutlich über dieser Marke. Der nördliche Stadtteil war auf der städtischen Homepage in dunkelroter Farbe ausgewiesen. Die Bereiche Altstadt I und II waren ebenfalls rot getönt: mit Werten von 211,2 sowie 214,2. Hat die Stadt Zeit verspielt, die absehbaren Probleme entschieden anzupacken?
Die Lage im Frühjahr: Scharfe Debatten um Migration und eine Einigung
Denn bekannt war die besondere Situation im Stadtteil längst: Schon im Frühjahr hatte Styrum die unschöne Tabelle angeführt – und Krisenstabsleiter Frank Steinfort hatte schlecht integrierte Migranten und „Parallelgesellschaften“ für die hohen Corona-Zahlen mitverantwortlich gemacht. Der Integrationsrat protestierte gegen einseitige, vorurteilsbeladene Schuldzuweisungen an Migranten und Kultur.
Eine Rolle spielten ebenso die vielen, teils prekären Jobs im Einzelhandel und Dienstleistungsbereich – etwa Zusteller – in denen besonderes viele Migranten arbeiteten. Ferner seien auch die Wohnbedingungen im Stadtteil mitverantwortlich, dass die Ansteckung besonders hoch sind. Damals einigte man sich – trotz unterschiedlicher Einschätzungen – aber in zwei Punkten: Man müsse mehr aufklären und – impfen, impfen, impfen.
Über den Handlungsbedarf war man sich einig, die Fahrtrichtung war klar, ein runder Tisch mit dem Integrationsrat an Bord wurde gegründet – und doch sind erneut die Inzidenzzahlen höher als in jedem anderen Stadtteil. Warum?
Diskutieren, Vorschläge machen und hoffen – wo das Handeln bleibt
Die Ursachen für den Anstieg seien aktuell die gleichen, räumt Krisenmanager Steinfort ein: „Es betrifft meist Menschen mit niedrigem Bildungsgrad, die über Zeitung oder soziale Medien nur schwer erreichbar sind.“ Man werbe daher in sechs Sprachen bei Facebook und Instagram für die Impfung, sagt der Stadtdirektor – aber die Botschaft komme selten dort an, wo es nötig wäre.
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Im Krisenstab diskutiere man daher oft darüber, wie man sich den Menschen nähern kann. Steinfort setzt darauf, dass auch die mögliche, neue Sozialdezernentin sich der Sache intensiv annimmt und Wege zur Kommunikation findet. „Integrationsarbeit“, so sagt er, „ist „eines der zentralen Themen unserer Gesellschaft.“ Auch die Leiterin des hiesigen Integrationszentrums habe sich des Problems angenommen – und wolle bald konkrete Vorschläge zur Annäherung machen.
„Man macht bald Vorschläge“, „man setzt darauf“, „man diskutiert“ – nur nach Handeln klingt das nicht. Derweil aber steigen die Zahlen. Und zur Wahrheit gehört auch: Der eigens eingeführte „Runde Tisch“ ist seit der Debatte im Frühjahr nur ein einziges Mal zusammengekommen. „Wir warten auf die Einladung der Stadt“, sagt Hasan Tuncer, Vorsitzender des Integrationsrates.
Macht das Geimpft-sein leichtsinniger?
Doch auch der engagierte Integrationsrat muss Versäumnisse einräumen: „Die Aufklärungskampagne ist nicht so erfolgt wie geplant.“ Denn der Vorstand musste feststellen, dass sich die Kontakte zu den Vereinen und Migrantengruppen verändert hatten – „zu 50 Prozent sind unsere Daten veraltet“, sagt Tuncer. Man sei dabei die Versäumnisse des vorherigen Integrationsrates – der neue ist seit November 2020 im Amt – aufzuarbeiten und sich „stärker zu professionalisieren“.
Tuncer allerdings befürchtet auch: Die hohe Zahl der Impfungen habe manchen Styrumer im Umgang „leichtsinniger“ werden lassen. Dass dabei auch sozio-kulturelle Hintergründe wie Familienstrukturen eine Rolle spielen, streitet er nicht ab. „Wir müssen daher viel mehr darüber aufklären, dass man Corona trotz Impfung bekommen kann, dass es Impfdurchbrüche gibt, dass Masken weiterhin sinnvoll sind.“
Auch der Bezirksbürgermeister Heinz-Werner Czeczatka-Simon sieht die Ursachen für hohe Infektionen in einer gewissen Lockerheit, „viele fühlen sich sicher und werden vielleicht unvorsichtig“. Der Bezirksbürgermeister hält weiter daran fest, dass man über Sportvereine, Moscheen Impfangebote vorantreiben muss. Auch sollten mobile Impf-Zentren an möglichst gut erreichbaren Stellen eingerichtet werden.
Die Falle der Vorurteile: Warum man möglicherweise falsch auf den Stadtteil schaut
Zwei Impfaktionen für Styrum angekündigt
Über zwei Impfaktionen für jedermann will man vor Ort ebenfalls ins Gespräch kommen: Am Samstag, 4. September, wird von 13 bis 19 Uhr in der Disco „Ballermann 6“, Sandstraße 154-160, geimpft. Am Montag, 6. September, 13 bis 19 Uhr, ist das mobile Impfzentrum im Freien evangelischen Gemeindehaus an der Feldstraße 87.
Leider gebe es in Styrum nicht einen vergleichbar guten Ort zum Impfen wie das Forum in der Innenstadt, sagt Steinfort. Dort sei man bisher sehr erfolgreich zugange gewesen, habe bei drei Aktionen schon fast 1800 Menschen mit einem Piks versehen.
Den idealen Ort zeichne aus, „dass man mal eben im Vorbeigehen neugierig gemacht wird“. Steinfort freut sich, dass mittlerweile viele Jugendliche zur Impfung bereit sind: „Die sind weniger dogmatisch, eher pragmatisch. Sie wollen ihre Freiheiten zurückhaben.“
Doch vielleicht hat man bei der Debatte um Migranten und Kultur als Grund für hohe Inzidenzen einen wichtigen Aspekt aus den Augen verloren: die Kinder und Jugendlichen. „In keinen anderen Mülheimer Stadtteilen als hier und in der Altstadt I und II ist der Anteil der Kinder so hoch“, gibt Max Schürmann zu bedenken.
Der Geschäftsführer der Feldmann-Stiftung ist seit Jahrzehnten eng mit Einrichtungen und Bürgern in Styrum in Kontakt. Für seinen Ansatz sprechen auch die aktuellen Zahlen. Demnach sind die meisten Infizierten in der Altersgruppe unter 20 Jahren (aktuell 121) sowie zwischen 20 und 40 (104) zu finden. Verstellt der andauernde Blick auf Kultur vielleicht die Chance auf einen effektiven Ansatz im Stadtteil?
Schürmann sieht durchaus Bemühungen des Krisenstabs, gegen den Trend der Infektionen vorzugehen: „Ich bin angefragt worden, wo ein Impfbus sinnvoll ist.“ Und Schürmann erkennt auch die Bereitschaft der Moscheen und Migrantenvereine, Impf-Aktionen zu unterstützen. Der richtige Ansatz – ihn zu finden, braucht offenbar noch Zeit.