Mülheim. . Damit die Seiteneinsteiger sich wirklich integrieren können, arbeiten in Mülheim viele Menschen Hand in Hand. Die Herausforderung ist groß.
- Integration der 1180 Flüchtlingskinder in den Alltag der Mülheimer Schulen ist eine Herkulesaufgabe
- Ausgeklügeltes System mit vielen Beteiligten wurde innerhalb weniger Jahre auf die Beine gestellt
- Schulrätin hält Lehrkräfte trotz mancher Probleme für motiviert; für ihre Qualifizierung werde viel getan
1180 Schülerinnen und Schüler zusätzlich: Die Integration der Flüchtlingskinder in den Alltag der Mülheimer Schulen ist eine Herkulesaufgabe. Sie gelingt erstaunlich gut, sagt Schulrätin Maria Jacobs, wenngleich an vielen Schulen Obergrenzen erreicht seien. Klassen sind voll, Lehrer und Räume knapp. Sie erlebe die Lehrkräfte trotzdem vielfach als motiviert und die Schulleiter als lösungsorientiert, lobt die 61-Jährige. Die zuständigen Gremien arbeiteten gut miteinander und für die Qualifizierung der Lehrer werde einiges getan. Trotz der großen Herausforderung schaue sie deshalb positiv in die Zukunft – „es bleibt uns ja auch nichts anders übrig“.
Es ist ein ausgeklügeltes System, das da innerhalb weniger Jahre auf die Beine gestellt worden ist. Schulaufsicht, Kommunales Integrationszentrum (KI), Lehrpersonal, dazu oftmals Eltern und andere Ehrenamtliche, arbeiten Hand in Hand.
Sobald die Neuankömmlinge den Kontakt aufnehmen, kommt es zum Erstaufnahmegespräch im KI. Die Eltern erfahren, wie Schule in Mülheim grundsätzlich abläuft und was das mit ihrem Kind zu tun hat. In vielen Fällen stehen Dolmetscher zur Seite – „zumindest, wenn es gut läuft“, sagt Holger Krüger, pädagogischer Mitarbeiter im KI. Neben Sprachschwierigkeiten sind administrative Hürden zu überwinden: Krüger und die Kollegen bestücken eine Datenbank mit Namen, Geburtsdaten, Adressen. Eine Aufgabe, die kompliziert sein kann. Er erinnere sich an eine Familie aus Indien, in der drei Nachnamen existieren. Auch in einem solchen Fall müsse gewährleistet sein, dass sämtliche Daten mit jenen anderer Ämter übereinstimmen, „nur so finden wir die Menschen wieder“.
Ämter tauschen Daten aus
Man versucht herauszufinden, welche Schulerfahrung das Kind zuvor gemacht hat, ob es Kontakt mit lateinischen Buchstaben hatte, eventuell noch andere Sprachen kennt als nur die Muttersprache. Das Gesundheitsamt untersucht die Seiteneinsteiger. Die Behörden tauschen sich über ihre Erkenntnisse aus.
Diesen Austausch der sensiblen Daten müssen die Eltern vorab erlauben: via Unterschrift unter einer datenschutzrechtlichen Erklärung. Das sei durchaus auch mal ein Problem, berichtet Krüger. Die Flüchtlinge, die in der Vergangenheit womöglich schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht hätten, seien misstrauisch, scheuten sich, etwas in fremder Sprache einfach blind zu unterzeichnen. Zum Glück könnten die Dolmetscher oft Ängste nehmen.
Sobald die Eckdaten feststehen, geht es darum, das Kind gut unterzubringen: „Wir schauen, wo Platz ist und achten drauf, dass der Schulweg nicht zu lang wird“, erklärt Jacobs. Selbst wenn die Kapazitäten angespannt seien, klappe die Vermittlung oft „reibungslos“.
Ziel ist es, die Flüchtlingskinder Stück für Stück in die Regelklassen zu integrieren. Damit sie dem Unterricht überhaupt folgen können, steht zunächst im großen Umfang Deutsch bei speziell geschulten, bundesweit äußerst begehrten Kräften auf dem Plan: zehn bis zwölf Stunden pro Woche. Von Anfang an nehmen die Kinder aber auch am regulären Unterricht teil.
Damit die Lehrer mit den neuen Schützlingen kommunizieren können und Rat wissen, wenn es mal Schwierigkeiten gibt, die sich aus den oft tragischen Biografien oder kulturellen Unterschieden ergeben können, gibt es Qualifizierungsangebote. Seit 2014 bieten Schulamt und KI Jahr für Jahr andere Fortbildungen an. 2017 trugen diese Überschriften wie Migrationssensibilität oder Alphabetisierung, klärten auf über andere Denk- und Verhaltensmuster, andere Normen und Wertvorstellungen oder über die Vermittlung des lateinischen Alphabets.
Schulberatungsstelle hilft Lehrern
„Die Module sind stark nachgefragt“, weiß Jacobs, „das ist für uns ein Indiz, dass die Kollegen wirklich bemüht sind, die Aufgabe gut zu bewältigen.“ Die Schulen schickten immer wieder neue Kollegen, da fast jeder mit dem Thema befasst sei. Und auch die Schulpsychologen der hiesigen Regionalen Schulberatungsstelle böten Unterstützung an, wenn es Krisen gebe – etwa wegen der Traumatisierung eines Kindes.
Apropos: Störungsfrei verläuft die Integration nicht in jedem Fall. Laut Krüger kann es Probleme geben „wegen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Ansichten“ oder auch „wegen Themen, die sich in einer Migrationsgesellschaft immer mal wieder stellen: zum Beispiel die Frage nach der Teilnahme am Schwimmunterricht“. Bestimmte Rituale seien für uns selbstverständlich, für die Neuankömmlinge aber keinesfalls. „Es besteht hoher Gesprächsbedarf“, bestätigt Jacobs. Man müsse sich intensiv mit den Flüchtlingen beschäftigen, das binde Energie. „Aber es ist eben auch schön, zu sehen wie dankbar sie alles annehmen, wie sehr das Ganze unser soziales Miteinander bereichert.“ Handgreiflichkeiten seien selten, betont die Schulrätin. Und die deutschen Kinder profitierten ganz eindeutig vom Blick über den Tellerrand.
Die Erstförderung, in der die Deutschstunden im Vordergrund stehen, ist auf zwei Jahre angelegt: „Wenn die Kinder schneller lernen, können sie eher am Regelunterricht teilnehmen“, sagt Jacobs. Erfreulich sei, dass nur wenige Schüler nach der zweijährigen Eingangsphase die Schulform wechseln müssten. Man versuche bei der anfänglichen Auswahl der Schule eine möglichst passende Form zu finden, „und unsere Trefferquote ist offenkundig hoch“.
Schule 2.0 als Sonderform
Einige der Seiteneinsteiger nehmen teil am nicht unumstrittenen Sonderprogramm „Schule 2.0“ – ohne direkte Anbindung an eine Regelklasse und daher auch ohne täglichen, selbstverständlichen Kontakt zu deutschen Mitschülern. An dem Projekt sind mehrere Schulen beteiligt, so die Städtische Realschule an der Mellinghofer Straße, wo zurzeit rund 70 Schüler auf diese Art und Weise unterrichtet werden.
Schulleiterin Judith Koch, an deren Schule auch rund 20 Kinder in der Erstförderung sind, spricht von guten Erfahrungen. „Wer die Bereitschaft hat, Neues als Bereicherung zu empfinden, der profitiert von den Seiteneinsteigern.“ Man könne im Sowi-Unterricht zum Beispiel „besser erklären, wieso man mit dem Kauf eines Zwei-Euro-Shirts dazu beiträgt, dass es in der Heimat eines Flüchtlings furchtbar ist“. Die Schüler seien oft beeindruckt, dass die neuen Klassenkameraden mehrsprachig seien. Zudem: Kinder mit Kriegserfahrung relativierten so manches im Leben ihrer deutschen Mitschüler.
>> Lehrer-Gewerkschaft: Anfangs große Besorgnis
„Anfangs gab es große Besorgnis unter den Lehrern“, sagt Andrea Schindler, zweite Vorsitzende des Stadtverbandes Mülheim der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Die Fortbildungen der Stadt und des Kompetenzteams NRW hätten jedoch geholfen. Dennoch herrsche beim Thema Seiteneinsteiger noch immer nicht nur eitel Sonnenschein. Die Kollegen beklagten sich über zunehmende Belastung, „manchmal ist das aber vielleicht auch nur eine Art Dampfablassen“.
Wenngleich bis dato alles recht gut laufe, so Schindler, die an der Erich-Kästner-Grundschule im Einsatz ist, gebe es Grenzen. Die Klassen seien voll, „und wir haben ja nicht nur die Seiteneinsteiger“. Erschwerend käme das Thema Inklusion hinzu sowie der Mangel an Lehrern und Sonderpädagogen. „Wenn es von allem nicht genug gibt, ist die gefühlte Belastung einfach hoch“, so die 55-Jährige. Niemand bei der GEW verstehe, „dass man in den Berechnungen der letzten Jahre nicht gemerkt hat, dass da eine Lücke auf uns zukommt“. Für die Bewältigung der großen Herausforderungen an den Schulen sei es dringend erforderlich, die Lehrerausbildung attraktiver zu machen. „Dafür müssen auch alle Lehrer das gleiche Einstiegsgehalt bekommen.“
Integration ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Es sei wichtig, das Thema Integration als gesamtgesellschaftlichen Auftrag zu verstehen und die Aufgabe nicht Einzelnen zu überlassen. Es dürfe nicht dazu kommen, dass Flüchtlingskinder vermehrt Schulen in ohnehin schon schwierigem Einzugsgebiet zugewiesen würden. Wünschenswert sei eine gleichmäßige Verteilung der Seiteneinsteiger – „davon würden alle profitieren“. Fürs Soziale sei es immer gut, wenn Kinder sich umeinander kümmerten und eine gelungene Mischung an Schulen bestehe. „Bei uns an der Schule erlebe ich nicht, dass Kinder fragen, wo die andere herkommen. Das ist nicht wichtig.“
>> Info: Ausschuss soll umfänglich informiert werden
Mülheims Grundschulen besuchten zum Stichtag 31. Mai 2017 insgesamt 487 Seiteneinsteiger. In der Sekundarstufe I wurden laut aktuellem Bericht des Kommunalen Integrationszentrums 490 Flüchtlingskinder gefördert. 186 weitere Schüler und Schülerinnen wurden in der Sekundarstufe II beschult und 17 weitere an der Waldorfschule.
Im Bildungsausschuss am 27. September will die Stadt umfänglich über die Situation der Seiteneinsteiger informieren.