Mülheim. Ihr Kiosk am Ende der Schloßstraße war Kult: Wie die Mülheimerin Dorothea Schaaf mit Qualität und ohne Alkoholverkauf zur Institution wurde.
„Trinkhalle“ – wenn Dorothea Schaaf schon das Wort hört, sträuben sich ihr die Nackenhaare, bei ,Bude’ geht sie hoch. 46 Jahre lang führte sie ihren Kiosk. In der Stadtmitte wurde sie für Pendler wie Stadtflaneure zur Institution. „Trinken“ konnte man bei ihr nie, dafür aber lesen: Die internationale Presse führte sie fortschrittlich als eine der ersten Mülheimer Kioske im Regal. Jetzt allerdings hat ihr Leben „Kusselkopf gemacht“, wie Schaaf sagt, und die 64-Jährige hat ihren Kiosk aus gesundheitlichen Gründen aufgeben müssen.
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Mülheimer Kiosk war Dorothea Schaafs Leben: 70 Stunden in der Woche, fast jeden Tag
Ein Jahr hätte sie noch bis zur Rente. Dass Wehmut im Spiel ist? Kein Wunder. Der Kiosk war ihr Leben: 70 Stunden in der Woche, fast jeden Tag, stand die überzeugte Mülheimerin im Laden, der oft nur wenige Quadratmeter hatte und erst mit dem Neubau an der heutigen U-Bahn-Haltestelle Stadtmitte überhaupt eine Toilette. „Ich war die ganzen Jahre eigentlich nie krank“, denkt Schaaf nach. Jetzt muss der Körper zur Ruhe kommen, „und ich merke, dass es mir gut tut“.
Die OB jeder Couleur kamen bei ihr täglich vorbei, der einstige NRW-Landesvater Jürgen Rüttgers zeigte sich bei der Mülheim-Stippvisite mit ihrem Büdchen gern – und auch andere Politiker, die ihren Lokalkolorit kultig aufpeppen wollten. Politisch einkassieren ließ sie sich dennoch nie, Schaaf blieb unabhängig, ,eckig’ – wie ihr charakteristisches Geschäft.
Das war auch nicht immer von Vorteil, wie sich Ende der 80er Jahre einmal zeigte, als ihr Kiosk ambitionierten U-Bahn-Planern und manchen Politikern offenbar ein Dorn im Auge war.
Schaaf verzichtete bewusst aufs Alkoholgeschäft: „Druckerschwärze und Lebensmittel gehören nicht zusammen“
Seit 1972 kannte man sie auf der Schloßstraße, doch den Kiosk eröffneten ihre Eltern Agnes und Gerhard Scholl weitaus früher – am 21. Januar 1949 begannen sie dort, wo sich heute die Broicher Mitte befindet. Wenig später zog der Zeitungskiosk erst an den Berliner Platz, dann an die Schloßstraße an die Stelle der heutigen Nationalbank.
1975 übernahm Tochter Dorothea allmählich auch das Geschäft, mit dem sie groß geworden war. Und dennoch war es „ein Sprung ins kalte Wasser“, sagt sie. Als Frau drei Tage allein – von früh bis spät. So aber lernte sie selbstbewusst zu schwimmen und übernahm ganz.
Das Credo ihrer Eltern behielt sie bei: „Druckerschwärze und Lebensmittel – die gehören nicht zusammen.“ Und keinen Alkoholverkauf – Agnes und Gerhard legten darauf Wert, keine Trinkhalle zu sein. Die oft üblichen belegten Brötchen gab es genauso wenig: Tabak, Fahrkarten, Süßigkeiten und auch Kaffee – das waren Schaafs späteren Zugeständnisse an den Zeitgeist der ,Büdchen’. „Ich hätte mich mit dem Verkauf von Alkohol nicht wohlgefühlt. Das Klientel und die Atmosphäre sind dann einfach anders“, reflektiert Schaaf.
Als die Mülheimer U-Bahn kam, stand der Kiosk am Platz auf der Abschussliste
Als in den 1980ern die U-Bahn und damit der heutige Zugang kam, musste die Geschäftsfrau von ihrer gewohnten Stätte erneut abwandern. Die heutige eckige Alternative gab es noch nicht. So flanschte man ihren Kiosk an den städtischen Präsentations-Container, der die U-Bahn bewarb.
Die „Hundehütte“, so nannte Schaaf ihren zwei Mal zwei Meter großen Verschlag, war nicht regendicht – und gewünscht war er wohl noch weniger: „Optisch stand ich den Planern wohl im Weg“, mutmaßt die 64-Jährige, „man wollte mich im Woolworth-Gebäude unterbringen.“
Doch Schaaf blieb standhaft trotz ,Andeutung’, dass man ihr dann einen Zeitschriftenladen bei Woolworth vor die Nase setzen wolle. Hilfe kam von unerwarteter Seite: Unter anderem der inzwischen verstorbene CDU-Politiker Hermann-Josef Hüßelbeck soll sich für sie stark gemacht haben. Am Ende votierte der Rat für ihre „Institution“. Und der heutige Pavillon wurde gebaut.
Vom Kiosk aus konnte Schaaf den Niedergang der Mülheimer Innenstadt genau verfolgen
Von ihrem Kiosk aus hatte die Geschäftsfrau den Lauf der Geschäftsstraße stets im Blick – und deren Niedergang. „Das hat in den 90er-Jahren angefangen mit den Zentren auf der ,grünen Wiese’ und fremden Stadtplanern, die nicht in Mülheim lebten“, analysiert Schaaf.
Und auch, wie das Quartier vor ihrer Kioskklappe sich wandelte: Kaufhof-Ende, C&A gibt auf, mehr Ladenketten ziehen ein – „das gegenseitige Kaputtmachen fing an“ – Ruhrbania, das Online-Bestellen. „Die Schollenstraße und Marina sind inzwischen Drogenumschlagsplätze geworden, ab 18.30 Uhr fahren dicke Schlitten vor, es gibt viel Palaver“, hat sie beobachtet.
Schaaf: „Nationalstolz geht mir ab. Die Menschen einer Stadt sind das Wichtigste“
Zwei Überfälle: einer mit Helge – und ein echter
Manches Anekdotische hat Dorothea Schaaf erleben dürfen: So drehte Jazzer und Komiker Helge Schneider eine Szene seines zweiten „00-Schneider“ an ihrem Pavillon.
Die beiden Drehtage waren unerwartet kräftezehrend, aber spannend: „Man sieht ja im Film nicht, wie oft eine Szene, die eigentlich improvisiert wirkt, tatsächlich gedreht wird.“ Im Film wird Schaafs Kiosk überfallen.
In der Realität ist der Geschäftsfrau das zum Glück nur ein Mal passiert – vor gut sechs Jahren. Gegen vier Uhr früh muss der Einbruch passiert sein, bevor sie zum Kiosk kam. Der Sachschaden bliebt zwar recht gering bei etwa 1800 Euro. „Aber es war eine schäbige Zeit, denn das verfolgt einen“, sagt Schaaf. Seitdem nahm sie Geld und Zigaretten stets mit – im Müllsack.
Kritisch sieht sie auch die einseitige Zunahme von Migrantenfamilien in der Innenstadt. „Ich bin dabei absolut keine Rechte, Nationalstolz geht mir ab“, betont sie. Das zeigte sich nicht nur an den internationalen Zeitungen in ihrem Bestand – und dem Fehlen der rechtsnationalen Presse. Als Schaaf zur Fußballweltmeisterschaft 2014 gebeten wurde, ihren Kiosk mit Deutschlandfahnen zu schmücken, lehnte sie ab – „wenn schon, dann die Flaggen aller Länder – wo bleibt denn sonst der Zusammenhalt?“
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Wer also hat versagt, die Menschen in der Stadt mitzunehmen? „Denn sie sind doch das Wichtigste“, meint Schaaf – und der Fluss, das Grün. . . „Ich liebe mein Mülheim immer noch, darauf lasse ich nichts kommen“, bekennt die 64-Jährige, die von der Schloßstraße nicht wegzudenken war und nun dennoch ihren Abschied aus der Stadtmitte genommen hat. Viele Menschen fragten nach, als bekannt wurde, dass sie im Frühjahr aufhören würde, erzählt sie: „Es tat gut, dass viele Leute Anteil genommen haben. Das hat mir gezeigt, es ist nicht egal, dass ich nicht mehr vor Ort bin.“