Mülheim. Marta Kulakowska pflegte Schwerstkranke auf der Intensivstation. Dann raubte ihr Corona alle Kraft. Mühsam kämpft sich die Mülheimerin zurück.
Für unser Gespräch über ihr Leben und Leiden hat sich Marta Kulakowska vorbereitet. Am Tag zuvor hat sie sich geschont, hingelegt, Kräfte gespart. Dabei muss sie nur ruhig auf einem Stuhl sitzen, ihre Gedanken sortieren und sprechen. Doch das strengt die 35-Jährige ungeheuer an.
Mülheimerin pflegte früher Schwerstkranke auf der Intensivstation
„Jung, dynamisch, voller Energie, auf dem Weg nach oben.“ Mit diesen Worten beschreibt Marta Kulakowska die Frau, die sie früher gewesen ist: Schwester Marta, Pflegerin und Fachbereichsleiterin auf der Intensivstation im Evangelischen Krankenhaus Mülheim (EKM). Im Mai 2020 war sie in dem Glauben, „dass wir die erste Corona-Welle gut bewältigt haben“. Obwohl es hart gewesen sei, „das ganze Elend und Leid bei den Patienten zu sehen“.
Um etwas zu entspannen, fuhr sie zu ihren Eltern, die in Niedersachsen ländlich leben. Die tiefe Erschöpfung, die sie spürte, führte sie auf die schweren Spätdienste zurück. Unvermittelt erwischte es sie. „Ich hatte plötzlich Luftnot und schweren Druck auf der Brust, Puls und Blutdruck schossen hoch. Ich dachte, ich verbrenne von innen. Ich hatte Todesängste.“ Ihre Mutter rief den Notarzt.
Plötzlich Luftnot und Todesangst - Mutter rief den Notarzt
Im Krankenwagen hielt der Arzt schon den Tubus in der Hand, fragte eilig nach Existenziellem: Patientenverfügung? Morphingaben? Im Krankenhaus in Meppen wurde eine Coronavirus-Infektion festgestellt. Marta Kulakowska blieb drei Tage stationär, die Werte besserten sich. Sie fuhr im eigenen Auto nach Mülheim zurück.
Zu Hause wollte sie sich hinlegen. „Da kam von jetzt auf gleich der zweite Luftnotanfall.“ Sie wurde in ihr eigenes Krankenhaus eingeliefert, ins EKM, blieb zwei Wochen auf der Covid-Station. Intubiert werden musste sie nicht. Am 12. Juni 2020 wurde die Patientin entlassen. Mehr als zehn Monate später ist Schwester Marta immer noch schwer krank. Sie leidet an Long Covid, auch Post-Covid-Syndrom genannt. Es äußert sich auf ganz unterschiedliche Art. Bei ihr sind es unter anderem quälende Nervenschmerzen, die sie mit einer Gürtelrose vergleicht. „Ganzkörperschmerzen, als würde jede einzelne Zelle weggefressen.“
Ganzkörperschmerzen - und eine Odyssee von Arzt zu Arzt
Nächtelang habe sie nur gesessen oder gestanden, erinnert sich Marta Kulakowska. Liegen war unmöglich. Sie suchte Rat bei einem Neurologen, der vermutete eine Entzündung der Nervenbahnen oder im Gehirn. Sie stellt fest: „Die Hilfe bei Post-Covid ist sehr schwierig. Eine Odyssee. Man rennt von Arzt zu Arzt und wird auch leider Gottes oft als Hypochonder bezeichnet.“
Kaum erforschte Krankheit
Die Langzeitfolgen von Coronavirus-Infektionen werden Post-Covid-19, Long Covid oder Post-Covid-Syndrom genannt. Die Krankheit, die auch nach sehr milden Verläufen auftreten kann, ist noch wenig erforscht.
Die Symptome können sehr unterschiedlich sein, sie reichen von chronischer Müdigkeit (Fatigue) über Atemnot, Entzündungen, neurologische Störungen bis zu schweren Lungenschäden.
Bislang gibt es nur sehr wenige Anlaufstellen für Erkrankte, etwa die Post-Covid-Ambulanz an der Ruhrlandklinik in Heidhausen, die auf Lungenerkrankungen spezialisiert ist und zum Essener Uniklinikum gehört.
Betroffene berichten allerdings von monatelangen Wartezeiten bis zum ersten Termin.
Das Mülheimer St. Marien-Hospital macht allen Mitarbeitenden, die eine Corona-Erkrankung hinter sich haben, ein kostenloses Reha-Angebot. Die Betroffenen werden medizinisch und sportwissenschaftlich untersucht und bekommen einen persönlichen Trainingsplan.
Die Energiereserven eines Menschen vergleicht Marta Kulakowska mit einer Badewanne voller Wasser. „Wenn Post-Covid-Patienten um 12 Uhr alles ablassen, ist nichts mehr da.“ Wenn sie sich zu sehr anstrengt, folgen zwei Tage im Bett, auf dem Sofa, in der Hängematte. „Völlige Kraftlosigkeit, die einfach nur weh tut.“
„Jeder in meiner Nähe könnte das tödliche Virus in sich tragen“
Im privaten Kreis trenne sich bei einer solchen Krankheit die Spreu vom Weizen, hat die junge Frau erfahren. Sehr häufig will sie keinen Kontakt. Nur liegen, in Ruhe gelassen werden, sich auf die Atmung konzentrieren. Nicht jeder versteht das. Einige, die sie früher als Freunde bezeichnet hätte, seien jetzt weg. Die Corona-Infektion hat in ihr auch eine tiefe Angst gesät.
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Die 35-Jährige sagt, sie glaube an keine Sicherheit mehr. Wo auch immer sie Menschen treffe, beim Einkaufen oder Spazierengehen, verbinde sie das mit Krankheit oder Tod. „Denn jeder in meiner Nähe könnte das tödliche Virus in sich tragen.“ Sehr viele Long-Covid-Betroffene leiden an Depressionen. Marta Kulakowska suchte schließlich Hilfe beim psychologischen Dienst des Evangelischen Krankenhauses. Man nahm sie im hauseigenen Reha-Zentrum der Ategris auf: Physalis. Seit einem halben Jahr trainiert sie dort. Inzwischen schafft sie schon wieder zweistündige Spaziergänge, „in moderatem Tempo“.
Gerätetraining und Atemtherapie in ganz kleinen Schritten
Physiotherapeutin Daniela Ingenhag begann mit klassischer Krankengymnastik, 20 Minuten. „An Sachen wie Gerätetraining war anfangs gar nicht zu denken.“ Inzwischen ist es möglich, außerdem wurden die Therapieeinheiten auf eine Stunde ausgeweitet. Dies muss die Patientin über ihre Hausärztin und Krankenkasse immer wieder neu erkämpfen.
Ebenso die Stunden für Atemtherapie, die sie mit Susanne Goy wöchentlich absolviert. Physalis verfügt über ein interdisziplinär besetztes Team. „Wir haben ganz langsam angefangen, sie in Gang zu bringen“, berichtet die Therapeutin. Entspannungsübungen, autogenes Training, Dehnung des Brustkorbs, Atmen gegen Widerstand. Harte Übungen für eine Frau, die Todesangst und Erstickungsgefühle kennt. „Nach der ersten Stunde wollte sie nicht wiederkommen“, erinnert sich Susanne Goy. „Dann kam sie doch und sagte: Es war super.“ Die Atemtherapeutin sieht Fortschritte, „sie sind da, wenn auch relativ klein, und manchmal muss man auch einen Schritt zurückgehen“.
Zusätzlich übt Marta Kulakowsa wöchentlich ein oder zwei Mal mit einer Ergotherapeutin. Hirnleistungstraining. Denn auch ihr Gedächtnis wurde durch die Covid-Infektion angegriffen. „Ich vergesse Termine. Ich vergesse ganze Situationen.“
Es passiert, dass sie in Badelatschen und Jogginghose zum Auto läuft. Dabei wollte sie sich auf dem Balkon in die Sonne setzen. Essen in der Mikrowelle wird anderntags wiederentdeckt. Kochendes Teewasser erkaltet. Ob sie jemals wieder an ihren Arbeitsplatz auf der Intensivstation zurückkehren kann? Schwester Marta weiß es nicht. Eine Wiedereingliederung im März musste sie nach vier Wochen abbrechen. „Das Problem war die Reizüberflutung.“
Long-Covid-Betroffene vermisst ganzheitliche Angebote
Marta Kulakowska möchte ihr Leiden und das vieler anderer öffentlich machen. Sie vermisst ganzheitliche, fachübergreifende Angebote, bei denen der ganze Mensch betrachtet wird. „Die niedergelassenen Ärzte müssten sich verlinken.“ Viele Erkrankte, aber auch viele Ärzte wüssten noch nicht, dass man etwas tun kann. Ihr hat auch eine ganzheitliche Reha gut getan: Im Januar und Februar verbrachte sie insgesamt fünf Wochen in einer Klinik in Heiligendamm.
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In Mülheim gibt es bislang keine spezielle Anlaufstelle für Patienten, die von Corona-Langzeitfolgen betroffen sind. Das Evangelische Krankenhaus denkt wohl ernsthaft darüber nach. Aktueller Stand ist aber: Man befinde sich „in Abstimmung mit den Behörden“. Schwester Marta hat sich bei der Post-Covid-Ambulanz des Essener Uniklinikums auf die Warteliste setzen lassen. Man hat ihr einen Termin im Januar 2022 in Aussicht gestellt.