Mülheim. Karl Schulz wollte immer Musik machten. Der Krieg aber machte dem Mülheimer einen Strich durch die Rechnung. Ein Blick auf sein bewegtes Leben.
Wäre der Zweite Weltkrieg nicht gewesen. . . das Leben von Karl Schulz wäre womöglich anders verlaufen. Der 92-jährige Geigenbauer hätte vielleicht von Anfang an die Chance gehabt, sich ganz und gar seiner Leidenschaft zu widmen: der Musik. Vielleicht wäre er ein bekannter Orchester-Musiker geworden. So aber sitzt er in seinem Garten in Mülheim-Styrum und blickt – trotz allem glücklich – zurück auf neun Jahrzehnte, die vor allem anfangs alles andere als gradlinig waren. „Was uns dieser Hitler alles eingebrockt hat. . . eine Katastrophe!“
1929 kam Karl Schulz als zweiter von später einmal sechs Brüdern in Mülheim auf die Welt. Die Familie lebte an der Bachstraße, der Junge besuchte ab 1935 die Volksschule. Der Vater, Jahrgang 1897, war vom Ersten Weltkrieg versehrt, hatte zwei Granatsplitter im Kopf, war arbeitsunfähig. Seine Rente war minimal, Geld also Mangelware, „wenn wir Kinder mal einen Groschen hatten, waren wir König“. Es war schon damals das Größte, zur Bude zu stratzen und sich die Taschen mit Süßigkeiten vollzumachen.
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Für ein Jahr bei einem Bauern in Polen in der Lehre
Mitten im Krieg, nachdem Karl acht Schuljahre hinter sich hatte, stand die Entscheidung für einen Beruf an. Eine Versprechung Hitlers, die Aussicht auf ein Leben in etwas Wohlstand versprach, beeinflusste den jungen Mülheimer. Die besetzte Ukraine sollte „zur Kornkammer Deutschlands“ ausgebaut werden – „und junge Leute sollten rübergehen und einen Hof bekommen“. Karl ließ sich zum Landwirt ausbilden, „obwohl ich schon damals dachte, was der Hitler tut, kann eigentlich nicht gut gehen“. Bei einem Bauern in Polen war der Jugendliche für ein Jahr in der Lehre, später dann auf einem Hof in Neukirchen-Vluyn.
Fast hätte er für die Nationalsozialisten noch in den Krieg ziehen müssen, doch als der Einberufungsbefehl den 15-Jährigen erreichte, machte er sich aus dem Staub. „Ich wollte mich für Hitler nicht auch noch totschießen lassen.“ Er schlug sich zur Mutter durch, die mit den zwei jüngsten Brüdern bei Verwandtschaft nahe Kassel untergekommen war. Und fand Anstellung bei einem Bauern. „An Karfreitag 1945 war der Krieg dort zu Ende.“ Aufatmen.
Nach dem Krieg lieh ihm ein Soldat eine Klarinette
Für Karl begann ein neues Kapitel: Die Familie war nach den „schlimmen Jahren“ endlich wieder an der Bachstraße vereint. Und von Landwirtschaft wollte der Jugendliche nichts mehr hören. „Ich habe in einer Zimmerei gelernt.“ Holz zu verarbeiten, gehörte ab sofort zum Alltag von Karl Schulz. Und endlich auch die Musik, nach der er sich so sehnte.
„Ich wollte schon als kleines Kind Orchester-Musiker werden und ein Instrument haben, aber das war immer zu teuer. Meine Mutter hätte mir gern geholfen, aber es war nie genug Geld da, damit auch die anderen Brüder etwas bekommen.“ Nach dem Krieg lieh ihm ein Soldat eine Klarinette. Karl bildete ein Duo mit seinem Freund Franz, der Klavier spielte. Auch Unterricht war nun möglich, im ehemaligen Schlömer Konservatorium an der Bahnstraße. Großes Glück.
Die Freundschaft zu Franz brachte die entscheidende Wende in Karls Leben: „Er stammte aus Schönbach im Erzgebirge, heute Luby. Das ist eine alte Geigenbau-Stadt und Franz war Geigenbauer.“ Das habe ihn inspiriert, erinnert sich Karl Schulz. Der Freund hatte auch Kontakte nach Mittenwald, wo die filigranen Instrumenten ebenfalls seit Jahrhunderten hergestellt werden, und vermittelte Karl dort Anfang der 50er Jahre an einen Experten.
Bei Bruno Paulus, einem bekannten Vertreter der Zunft, den Geigenbau gelernt
Es war Bruno Paulus, ein noch heute bekannter Vertreter seiner Zunft. Karl Schulz lernte den Geigenbau von der Pike auf. Er erzählt von vielen Aufträgen – „manchmal lagen 30 Geigenböden auf einmal auf der Hobelbank“. Und ab und an gingen die Instrumente auch hinaus in die große, weite Welt. So orderte der Inhaber eines Musikgeschäfts in Chicago gern bei Paulus in Oberbayern. „Irgendwann aber war mir das zu viel Fließband-Arbeit; ich habe wochenlang nur gestochen.“ Und so kehrte er Mitte der 50er heim nach Mülheim.
Aufregende Zeit lebt in der Erinnerung weiter
Karl Schulz stammt nicht nur aus einer großen Familie – er hat selbst zwei Töchter und einen Sohn, dazu acht Enkel und drei Urenkel. Seine Frau Lieselotte, mit der er 55 Jahre lang verheiratet war, ist 2008 gestorben. Seit 1965 ist Styrum das Zuhause der Familie. Von seinen fünf Brüdern lebt noch einer, allerdings weit weg, in Belgien.Mit seinem Freund Franz, der gern auch zum Akkordeon griff, trat Schulz nach dem Krieg auch auf Galas auf, bei Hochzeiten, Vereinsfeiern. Immer dabei: seine Klarinette und sein Kontrabass. In den Erinnerungen lebt diese aufregende Zeit weiter.
Von da an war Karl Schulz selbstständiger Geigenbauer – und blieb es bis Anfang 2016. Er stellte Geigen her, Bratschen, Celli, Kontrabässe und Gitarren, kann heute noch wunderbar erzählen, wie entscheidend das Material ist. „Es ist alles Mögliche ausprobiert worden. Doch am besten ist noch immer, wenn Zargen und Böden der Geigen aus Ahorn sind und die Decken aus Fichte.“
„Man kann nichts besser machen, als Stradivari das gemacht hat“
Anders als in anderen Berufen, gebe es im Geigenbau kaum Neuerungen. „Man kann nichts besser machen, als Stradivari es gemacht hat. Dem eifern bis heute alle nach.“ Um 1730 sei der Höhepunkt seiner Schaffensphase gewesen, und noch heute sei der Italiener Maß aller Dinge. „Das liegt auch daran, dass wir einfach nicht so altes Holz haben, wie er damals in der Po-Ebene. Und dass seine Geigen mittlerweile so alt werden konnten, was sie noch besser gemacht hat.“ Leider seien von den rund 300 Wunder-Instrumenten nur noch wenige erhalten.
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Erst mit knapp 87 Jahren meldete Karl Schulz sein Gewerbe ab. Bis heute aber bessert er von Zeit zu Zeit Beschädigungen an Instrumenten aus, ersetzt etwa mal einen zerbrochenen Steg an einem Cello. Noch immer hängen auch Instrumente in seinem Haus, die einen Eindruck davon vermitteln, wie es früher einmal bei Familie Schulz ausgesehen haben mag. Wenn Käufer ein- und ausgingen. Und der passionierte Geigenbauer auch durchaus mal traurig war, weil er sich von einem seiner Schätze trennen musste.
„Da war mal so ein bordeauxroter Kontrabass, der war besonders schön. Den wollte ich gar nicht verkaufen.“ Dann aber überwog doch der Kaufmann in ihm und er gestattet einem Interessenten, das Instrument mitzunehmen. „Wie eiskalt der dann mit dem Bass aus dem Haus gegangen ist. . . ich hätte fast geweint.“
Manche Menschen hätten schlicht kein Herz für Instrumente und Musik
Manche Menschen hätten wohl schlicht kein Herz für Musik, witzelt Schulz. Bei ihm war das immer anders, und so spielte er auch noch bis vor zwei Jahren mit acht anderen Musikern im Salonorchester Oberhausen. Der Mülheimer stand dabei am Kontrabass, kümmerte sich außerdem um das Programm.
„Die Wiener Musik, die war immer mein Hobby“, schwärmt er. Doch irgendwann war klar: „Ich bin jetzt alt genug. Ich höre mit all dem auf.“ Beim Interview im Garten – neben der kleinen Werkstatt, wo noch manches Mal hantiert wird – fühlt es sich an, als habe er die Instrumente gerade erst aus der Hand gelegt.