Mülheim an der Ruhr. . Das Kriegstagebuch von Gerhard Johann aus der Wiesche ruhte über Jahrzehnte in einer Schublade, weil er es in Sütterlinschrift verfasst hatte und niemand diese noch beherrschte. Nun war seine Enkelin aber doch neugierig, was der alte Herr ab 1914 erlebt hatte. Und lernten neue Seiten an ihm kennen.

„Im Lager haben wir des Nachts keine Ruhe; jede Nacht kommen feindliche Flieger und werfen Bomben.“

Viele Jahrzehnte ruhte das braune Buch, dessen Maserung an Holz erinnert, in einer Schublade. Was Gerhard Johann aus der Wiesche zwischen 1914 und 1917 im Krieg erlebt hatte, wusste die Familie einzig aus seinen dürftigen Erzählungen. Sanitäter sei er gewesen und habe viel Elend gesehen, hatte der Mülheimer gesagt. Dass er auch an der Front eingesetzt worden war, wurde Enkelin Ursula Schumacher (73) erst jetzt klar – nach dem Studium seines Kriegstagebuchs.

Das Büchlein mit den eng beschriebenen Seiten in Sütterlinschrift vermochten weder sie noch ihre Mutter zu entziffern. Und irgendwie fehlte auch der letzte Biss, um einen „Übersetzer“ zu suchen. Tochter Anja gab sich damit nun nicht mehr zufrieden; sie wollte endlich mehr erfahren vom Urgroßvater, gab das Notizbuch in der Redaktion ab. So kam der Kontakt zu Uwe Lendzian zustande, der Sütterlin – zumindest in Grundzügen – lesen kann. Gemeinsam mit Ursula Schumacher blätterte er in den Notizen ihres geliebten Opas.

„Meine Prinzip: nichts freiwillig machen oder melden.“

Von Fronturlaub zu Fronturlaub reichen die einzelnen Kapitel. Womöglich hatte aus der Wiesche – der 1887 in Mülheim zur Welt gekommen war und erst als Bergmann auf Zeche Wiesche und später als Thyssen-Arbeiter tätig war – sich an der Front Notizen gemacht und diese dann daheim am Stück niedergeschrieben. Die gleichmäßige, saubere Schrift lässt das vermuten. Auf den ersten Seiten beschreibt er detailliert, wie sich der Weltkrieg historisch entwickelt hat; erst nach dieser eher nüchternen Betrachtung beginnen die privaten Notizen des Soldaten.

„Es sind sehr schlimme Tage gewesen, man ist total kaputt. Ein Glück, dass wir morgens abgelöst wurden.“

Die Passagen erzählen von langen, entbehrungsreichen Monaten in Frankreich – zwischen Kaserne, Lager und Front. Sie berichten von Schützengräben, Sturmangriffen, französischer Artillerie und Granatfeuern.

„Im Lager angekommen, hausten wir in Erdhütten; der Regen sickerte überall durch. Am 27. Dezember 1914 erhielten wir die erste Feuertaufe. In dieser Nacht mussten wir Neulinge alle mit nach vorn.“

Die Ereignisse reihen sich streng chronologisch aneinander; für Enkelin Ursula ist nahezu alles neu. „Und ich verstehe auch gar nicht, dass er nichts von seiner Zeit als Sanitäter schreibt“, davon habe er ihr als Einziges erzählt. „Dass Schlimmste war die Erinnerung an einen Kameraden, dem die Augen ausgelaufen waren.“ Danach habe er Gottes Existenz angezweifelt.

„Er war ein guter Vater-Ersatz“

Noch kennt Ursula Schumacher nicht das ganze Tagebuch ihres Großvaters. Durch Uwe Lendzian, der beim Pressetermin mit Sütterlin-Spickzettel auflief, hat sie zwar einen ersten Eindruck erhalten – doch die Dümptenerin hofft, dass sich nun ein Mülheimer findet, der ihr das wertvolle Dokument in Gänze übersetzen kann.

Die 73-Jährige denkt gerne und oft an ihre Großeltern. Sie wuchs quasi bei ihnen auf. Denn der eigene Vater war im Zweiten Weltkrieg gefallen, als sie gerade 15 Monate alt war, und die Mutter musste arbeiten gehen. „Opa war ein ganz toller Mann, ein echter Vater-Ersatz, der mir auch oft bei den Schulaufgaben geholfen“, erzählt sie. „Und Oma hat mich immer verwöhnt. Meine Mutter war wesentlich strenger als sie.“

Ursula Schumacher ist gelernte Kontoristin – „später hieß das kaufmännische Angestellte“ –, sie ist verheiratet und hat zwei Töchter. Tochter Anja, die die ganze Geschichte ins Rollen gebracht hatte, war beim Pressetermin leider im Urlaub. „Aber sie ruft sicher heute Abend an und will alles wissen. . .“

Dass sie nun mehr – und vor allem ganz andere Seiten – von ihrem Opa kennen lernt, findet die Mülheimern nicht schlimm, sondern spannend, „ich komme ihm näher dadurch“. Das Verständnis der Enkelin für das Verschweigen vieler Details ist groß: „Man kann ja schon verstehen, dass sie nicht alles erzählen wollten – auch Oma wusste ja nicht alles, damit sie sich nicht zu sehr aufregte.“ Aus der Wiesche kam übrigens im Sommer 1917 – wohl wegen eines Arbeitseinsatzes – unversehrt zurück nach Mülheim, ins „liebe Heim beim Frauchen“.

„So war dann mit diesem Tage mein Leben und Treiben in dem Völkerringen abgeschlossen.“