Mülheim. Der Zwist zwischen Stadt und Integrationsrat ist beigelegt. Beide wollen nach vorne schauen. Was Infektionen in den Stadtteilen wirklich antreibt.
Versöhnliche Worte fanden Integrationsrat und Stadtspitze füreinander in einer Online-Sitzung am Dienstagabend. Nach dem öffentlichen und teils heftigen Schlagabtausch der vergangenen Tage zwischen Krisenstabsleiter Frank Steinfort und dem Vorstand des Integrationsrates über die Ursachen von hohen Fallzahlen in bestimmten Mülheimer Stadtteilen will man nun nach vorne schauen und gemeinsam die Pandemie in den Griff bekommen.
Auch interessant
Dinge beim Namen nennen, aber Pauschalisierung vermeiden
Der Integrationsvorsitzende Hasan Tuncer machte noch einmal deutlich, dass er und der Vorstand Steinfort nicht als Rassisten bezeichnet hätten und seine Äußerungen auch nicht so einordneten. Gleichwohl gehe es ebenso dem Integrationsrat darum, die Dinge beim Namen zu nennen, keine Zahlen zu verdrehen, „aber eine gewisse Pauschalisierung zu vermeiden“.
Denn: „Es wächst die Intoleranz“, stellte Tuncer mit Blick auf migrantenfeindliche Äußerungen in den sozialen Medien und auch in E-Mails gegenüber dem Integrationsrat fest. Auch Menschen mit Migrationshintergrund, die sich als Deutsche sehen, würden nun pauschal – nach ihrem Namen und Aussehen – verurteilt. Auch die Forderung, man müsse nun über die Moscheen gehen, um Muslime zu erreichen, löse die Probleme steigender Infektionszahlen kaum. Denn diese machten nur einen geringen Teil, etwa zehn Prozent, der Migranten aus.
Verweis auf Daten des RKI: Keine steigenden Zahlen wegen Ramadan
Der sehr differenzierte Vortrag der zweiten stellvertretenden Vorsitzenden, Medlina Al-Ashouri, trug zur Aufhellung bei: Zum einen machten Daten des Robert-Koch-Instituts von 2020 deutlich, dass es keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Ramadan und ansteigenden Infektionszahlen gebe, dagegen aber durchaus steigende Infektionen zu Weihnachten und Ostern 2021.
Zum anderen zeigte Al-Ashouri auf, welche Faktoren die Infektionen antreiben: dicht besiedelte Stadtteile, angewiesen sein auf ÖPNV-Nutzung, keine Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, Berufe, die zwingend Menschenkontakt voraussetzen. Auch Armut und mangelnder Zugang zu Bildung spielen in dieser Gleichung eine Rolle.
Auch interessant
Es arbeiten oft Migranten in systemrelevanten, kontaktreichen und prekären Berufen
Und die Migration? Wohl hauptsächlich in dieser Weise: Es sind eben oft Migranten, die in systemrelevanten Dienstleister-Berufen, als Reinigungskraft (Anteil: 31,8 %), in der Fleischverarbeitung (39,6 %), Lebensmittelherstellung (37,1 %), in der Gastronomie (30,2 %), auf dem Bau (34,4 %), an Supermarkt-Kassen, in der Pflege, als Paketbote arbeiten. Und nicht selten unter prekären Bedingungen.
Mobile Impfstationen und Corona-Coaches
Einen grundsätzlichen Anstoß gab Gabi Hawig (SPD) in die Runde: „Wir können nicht warten, bis Bürger zur Verwaltung kommen, wir brauchen aufsuchende Strukturen, die zu den Bürgern gehen.“
Michaela Rosenbaum, Geschäftsführerin der Mülheimer Awo, befürwortete mobile Impfstationen. Harald Karutz vom Psychosozialen Krisenmanagement der Stadt befürwortete Corona-Coaches, die im eigenen Umfeld Hilfsangebote machen.
Hilfe bei der ehrenamtlichen Verteilung von Information zu Impfungen und Tests bot ein Sprecher der muslimischen Ahmadiyya Gemeinde in Mülheim an.
Vergleichsweise gering ist der Anteil von Migranten etwa im Büro und Sekretariat (5,3 %) und in öffentlicher Verwaltung (2,1 %), wo oft im Homeoffice gearbeitet werden kann. Und es sind auch Migranten, die mehr noch von Armut betroffen sind, die in Stadtteilen wohnen, in denen Bildungseinrichtungen unzureichend vorhanden sind oder abgebaut werden.
Blick nach vorne: Aufklärung und gute Impfkampagne als gemeinsames Ziel
Doch der Blick auf Lösungen soll beide Seiten – Stadt und Integrationsrat – vereinen: „Aufklärung und eine gute Impfkampagne müssen jetzt unser gemeinsames Anliegen sein“, formulierte es Tuncer. Wichtig sei es vor allem, diese auf alle sozial Benachteiligten zu beziehen und nicht nur auf Migranten.
Margarete Wietelmann (SPD) unterstrich dies: „Die Skepsis gegenüber Impfungen gibt es nicht nur unter Migranten, sondern bei allen Alters- und Bevölkerungsgruppen. Da müssen wir noch viel tun, sonst erreichen wir das Ziel nicht.“
Nicht immer verlief die Konferenz harmonisch, sie erlebte aber einen am Ende nachdenklichen Stadtdirektor Frank Steinfort, der sich viele Notizen machte und die Anregungen konstruktiv aufnahm: „Ich fühlte mich verstanden, ich habe Sie verstanden, ich habe wirklich gute Hoffnung, dass wir durch gute Zusammenarbeit Menschenleben retten – das ist das Wichtigste im Moment.“