Mülheim. „Endlich mal feiern gehen“ oder „Mannschaftssport machen“. So lauten Wünsche von Mülheimer Jugendlichen. Die Corona-Zeit trifft auch sie hart.

Die Schule verlangt den Jugendlichen in der Coronazeit viel ab. Sie ist aber nicht das einzige Problem, mit dem Teenager zurzeit konfrontiert sind. Über die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Eltern wird ständig diskutiert. Dass sie auch die Jugendlichen hart trifft, ist viel seltener ein Thema. „Wir werden irgendwie vergessen“, findet Samuel Bielak (16) und fügt an: „Es gibt für uns keine Orte, an denen wir den Stress, der zum Beispiel in der Schule entsteht, abbauen können. Die Sportvereine dürfen für Leute über 14 nichts anbieten, wir dürfen uns abends ja noch nicht mal auf eine Parkbank auf einem Spielplatz setzen.“

Welchen Stellenwert haben 14- bis 17-Jährige in Mülheim?

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„Wenn ich lese, dass die Spielplätze ab 18 Uhr geschlossen sind, drängt sich bei mir die Frage auf, welchen Stellenwert die 14- bis 17-Jährigen momentan in unserer Gesellschaft haben“, schreibt WAZ-Leser Volker Isbruch-Sufryd. Jugendliche würden lediglich in Zusammenhang mit Lärm und Krach gebracht, die Treffen von jungen Leuten – so werde suggeriert – seien ein Problem für die Pandemie-Entwicklung.

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„Nirgendwo ist die Rede von den besonderen Bedürfnissen der jungen Menschen in diesem Alter: Bewegung, Gemeinschaft, Kommunikation“, merkt der Vater von vier Kindern an. Orte, die für kontrollierte Treffen möglich wären, würden gesperrt. Sportvereine dürften weiterhin praktisch keine Angebote für Jugendliche machen. Dabei sei es beim Sport möglich, sich unter Corona-Bedingungen zu treffen und sich körperlich zu verausgaben. „Wundert sich da irgendjemand über heimliche Abi-Feiern? Gibt es Möglichkeiten von kontrolliertem Feiern? Fehlanzeige!“, so Volker Isbruch-Suyfryd.

Kontrolliertes Feiern ermöglichen

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„Wir müssen die Bedürfnisse der Jugend anerkennen und sie nicht ausblenden oder gar kriminalisieren“, findet der Förderschullehrer und fragt: „Welche Eltern von 14- bis 17-Jährigen verzweifeln gerade nicht an der medialen und digitalen Freizeitgestaltung ihrer Kinder, für die es keine Alternativen gibt?“ Er fordert: „Auf Spiel-, Bolz- und Skaterplätzen sowie Schulhöfen und am Stadthafen sollten sich Jugendliche treffen dürfen. Denn hier könnten sie bei Bedarf und im freundlichen Tor auch auf fehlende Masken oder Gruppenkuscheln hingewiesen werden.“

Die sozialen Kontakte sind eingeschränkt. Darunter leiden viele Jugendliche.
Die sozialen Kontakte sind eingeschränkt. Darunter leiden viele Jugendliche. © FUNKE Foto Services | Sergej Glanze

Dass Jugendliche keine Lobby haben in der Gesellschaft, ist auch für Stadtjugendring und Stadtverwaltung nicht neu, die Konflikte zwischen Jugendkultur und den Erwachsenen gibt es nicht erst seit Corona: Seit Jahren schwinden die Orte für Jugendliche und die Toleranz den jungen Leuten gegenüber. „Es gibt seit Jahren zu wenig Räume, wo sich Jugendliche selbstverständlich aufhalten dürfen, auch laut sein, Musik hören dürfen oder ein Bier trinken“, erklärt Peter Possekel, Vorstand des Stadtjugendringes. Zusammen mit der Stadt hat man erst kürzlich eine Kampagne gestartet, um daran etwas zu ändern.

Freunde treffen und auf ein Konzert gehen

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Jetzt, in der Pandemie, fehlen aber nicht nur die Treffpunkte, sondern sogar die sozialen Kontakte selbst. „Man trifft nur noch wenige Freunde, und die auch nur einzeln und draußen. Schön wäre es, sich mal wieder in der Gruppe treffen zu können, ohne ständig darüber nachzudenken, was erlaubt ist oder nicht“, sagt Lena (17). Feiern oder shoppen gehen, mit Freunden diskutieren, gemeinsam Sport treiben oder einen Film anschauen, tanzen im Club und vielleicht auch mal flirten – all das geht gerade nicht. Sich immer wieder Dinge zu überlegen, die man alleine machen könne, ist für die Schülerin anstrengend, unbefriedigend und manchmal deprimierend.

„Freunde treffen und auf ein Konzert gehen“, antwortet Hannah (15) auf die Frage, was sie tun wird, sobald die Corona-Beschränkungen fallen. Momentan ist sie fast nur zuhause, arbeitet für die Schule, liest oder joggt - „alles, was man alleine machen kann“. Es fehlt ihr, sich mit mehreren Freunden gleichzeitig zu treffen, auf Klassenfahrt zu gehen. Gerne würde sie auch eine Jugendreise machen, ein Fußballstadion besuchen. Ihr eigenes Sporttraining und die Spiele ihres Teams vermisst sie sehr.

Kaum Sportangebote für junge Leute ab 14

Gemeinsam Sport treiben – das können Jugendliche in Coronazeiten nicht.
Gemeinsam Sport treiben – das können Jugendliche in Coronazeiten nicht. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

„Ich skype täglich mit meinen Freunden, manchmal sogar stundenlang. Wir spielen auch Spiele übers Internet“, erzählt Anne Humrich (16). Ansonsten suche sie sich Beschäftigung, gärtnere oder miste ihr Zimmer aus. Glück habe sie mit ihren Hobbys. Der Leichtathletikverein biete einmal in der Woche ein Online-Training an. In der Reitschule gebe es jetzt wieder zumindest Einzelunterricht. „Momentan ist es oft langweilig, aber total belastend finde ich es auch wieder nicht“, erklärt die Schülerin. Traurig ist sie darüber, dass die Skifreizeit der Schule ausgefallen ist.

Dass es keine Abschlussfahrt geben wird, bedauert auch Samuel sehr. Schade sei es zudem, dass man zurzeit eigentlich keine neuen Leute kennenlernen könne. Und Geburtstagsfeiern oder -partys können man nicht veranstalten oder besuchen. „Ich hatte erst letzte Woche Geburtstag. Aber mit fünf Personen aus zwei Haushalten? Gefeiert wurde nur in der Familie“, sagt er. Seinen Kampfsport könne er aktuell auch nicht betreiben. Und der Bezirksschülersprecher weiß: „Die Jugendliche nutzen im Moment die elektronischen Medien sehr viel mehr als sonst.“

Keine Ausbildungs- und Praktikumsplätze

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Manche Teenager leiden unter beengten Verhältnissen daheim oder müssen sich auch noch um die berufliche Zukunft sorgen, weil sie keine Ausbildungsstelle und keinen Praktikumsplatz bekommen (haben) – oder keinen Auslandsaufenthalt realisieren oder planen können. Klara aus der Fünten, die Vorsitzende des Jugendstadtrates, gibt ein Beispiel. Sie hat sich unter anderem für eine Ausbildung bei der Polizei beworben. Dort müsse man auch das Rettungsschwimmerabzeichen vorweisen. „Aber wie soll ich denn dafür üben? Alle Schwimmbäder sind ja zu“, sagt sie.

Man kann der nervigen Situation aber auch etwas Positives abgewinnen. „Man lernt das, was man für selbstverständlich genommen hat, mehr wertschätzen, weil es momentan nicht geht. Es wird einem klar, wie wichtig das soziale Leben ist - eben, weil man nicht richtig raus gehen kann“, sagt Lena. Man spüre auch den Zusammenhalt in der Familie und mit den engsten Freunden deutlicher. Viele Jugendlichen teilen aber wohl Klaras Gefühl: „Das letzte Jahr war irgendwie ein verlorenes Jahr.“

Jugendpsychotherapeut: Kontaktbeschränkungen setzen jungen Leuten psychisch zu

Viele Jugendliche kommen gerade psychisch an ihre Grenzen, hat der Mülheimer Kinder- und Jugendpsychotherapeut Carsten Kraus festgestellt. In seiner Praxis melden sich zurzeit deutlich mehr Menschen als sonst. „Die Jugendlichen sind in eine Lebenskrise geraten, haben emotionale, soziale oder familiäre Probleme. Manche weisen eine depressiver Symptomatik auf“, berichtet er. Durch das „social distancing“ könnten bei Jugendlichen echte psychische Schäden entstehen. „Jugendliche brauchen Kontakte zu Gleichaltrigen, Beschäftigung, Anregung, Bewegung. Sonst kann sich das Gehirn nicht richtig entwickeln.“ Und das tue es gerade in der Teenagerzeit schnell, enorm und prägend.

Carsten Kraus ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche in Mülheim.
Carsten Kraus ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche in Mülheim. © Unbekannt | Kraus

Manche Auswirkung von Isolation oder Homeschooling zeigt sich erst auf den zweiten Blick. „Kinder, die ängstlich und depressiv sind und nicht gerne in die Schule gehen, fühlen sich im Distanzunterricht vordergründig besser. Aber durch das Vermeiden der beängstigenden Situation stabilisieren sich Angst und Depression noch weiter“, gibt Carsten Kraus ein Beispiel. Fatal sei auch, dass die Nutzung der elektronischen und digitalen Medien – sonst zurecht kritisch betrachtet – in der aktuellen Situation stark gefördert und sogar belohnt werde.

„Viele Sicherheitsregeln, die wegen des Virus’ erlassen wurden, stehen der gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen komplett entgegen – und sie werde Folgeschäden verursachen“, glaubt der Psychotherapeut. Prägungen, die jetzt im Gehirn entstehen, könnten nur schlecht wieder verändert werden. Kraus plädiert daher für einen „Weg dazwischen“, dafür, den Jugendlichen hier und da mehr zu ermöglichen – etwa Sport oder gewisse soziale Kontakte. „Beziehung und Bindung sind ein Hauptbedürfnis des Menschen. Wird es nicht befriedigt, entsteht ein Mangelgefühl, das dann häufig kompensiert wird – beispielsweise durch das Zocken am Rechner, durch übermäßiges Trinken oder Essen, Rauchen und so weiter“, erklärt er.

Die Regeln der Corona-Verordnungen schränken, so Carsten Kraus, auch die Möglichkeiten in der psychotherapeutischen Arbeit mit Jugendlichen ein. Viele Wege – etwa in der Verhaltenstherapie – können gar nicht beschritten werden, weil sie in der aktuellen Lebenswelt nicht realisierbar sind. „Wir können fast nur kognitiv (durch Wahrnehmen und Denken) arbeiten, und das reicht in vielen Fällen leider nicht aus.“