Mülheim. In Mülheim gibt es etwa zehn Menschen, die aktuell auf der Straße schlafen. Ein ehemals Obdachloser berichtet, wie er von der Straße wegkam.

In der Pandemie lautet die Botschaft: bleibt zu Hause. Doch was, wenn es kein Zuhause gibt? In Mülheim schlafen derzeit etwa zehn Männer und Frauen auf der Straße, noch mehr leben in unsicheren Wohnverhältnissen. Diese Bedürftigen zu erreichen, ist für Streetworker in Corona-Zeiten schwieriger geworden. Ein ehemals Wohnungsloser berichtet, wie er von der Straße wegkam.

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Zwei Monate unter der Hardenbergbrücke geschlafen

Dieses Weihnachtsfest wird für Sven Wirtz ein Besonderes. Nicht wegen der Corona-Pandemie, sondern, weil er nach zwei Jahren endlich wieder eine eigene Wohnung bezieht. Es ist nur ein kleines Single-Appartement, 24 Quadratmeter unter dem Dach, aber für ihn ein großer Schritt zurück in die Eigenständigkeit. „Es gibt mir wieder Perspektive“, sagt der 40-Jährige.

Zwei Monate lang lebte Wirtz auf der Straße. Wie kam es dazu? „Meine Frau trennte sich von mir, ich wurde arbeitslos, rutschte in die Spiel- und Alkoholsucht ab“, berichtet er. Als er die Miete nicht mehr zahlen konnte, verlor er seine Wohnung. Kurzerhand stopfte er ein paar Sachen in den Rucksack und zog nach draußen – nachts schlief er unter der Hardenbergbrücke. „Das war im November 2017 und es war richtig kalt. Bei Freunden konnte ich zumindest duschen und meine Klamotten waschen.“

Mit dem Sammeln von Pfandflaschen bezahlte er sein Essen

Sven Wirtz und Streetworker Lukas Brockmann vor der Wohnungslosenhilfe der Diakonie an der Mülheimer Auerstraße.
Sven Wirtz und Streetworker Lukas Brockmann vor der Wohnungslosenhilfe der Diakonie an der Mülheimer Auerstraße. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Das Gefühl, auf der Straße zu schlafen, sei sehr beschämend gewesen, sagt Sven Wirtz. „Außerdem hatte ich Angst, musste ständig auf mich und meine Sachen aufpassen.“ Ein bisschen Geld zum Leben habe er beim Pfandflaschen-Sammeln eingenommen. Davon kaufte er sich meist Essen in Dosen. Denn sich zum Betteln auf die Straße zu setzen, kam für ihn nie in Frage. „Ich bin in Mülheim aufgewachsen, da hätten mich einige Leute erkannt.“

Ein Bekannter erzählte ihm von der Notschlafstelle des Diakonischen Werks an der Kanalstraße 7. „Dort habe ich zwei Wochen lang übernachtet, danach kam ich in eine Wohnung für obdachlose Männer an der Gustavstraße.“ Bei den Sozialarbeitern fand er frische Kleidung, ein offenes Ohr und Hilfestellung: Sei es, um Behörden-Angelegenheiten zu regeln oder um Suchtprobleme anzugehen. „Ich kann nur jedem raten, die Hilfe anzunehmen“, sagt Wirtz.

Ziel für die Zukunft: Arbeit finden

Im Dezember bezieht er ein kleines Appartement des Diakonischen Werkes an der Kaiser-Wilhelm-Straße in Styrum. „Dort kann ich erst einmal bleiben.“

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Seine Ziele für die Zukunft? „Arbeit finden“, sagt Wirtz, der zwar keine Ausbildung, aber viele Jahre in einer Gießerei gearbeitet hat. Die Spiel- und Alkoholsucht habe er inzwischen im Griff, mit dem Einzug in die neue Wohnung will er sein Leben wieder selbstständiger gestalten. „Da freue ich mich drauf.“

Als Streetworker in der Stadt unterwegs

Auch Lukas Brockmann kennt die Nöte der Bedürftigen in diesem Corona-Winter: die Sucht, die Kälte, Isolation und Perspektivlosigkeit. Der Sozialarbeiter ist seit diesem November als Streetworker für die Diakonie auf den Straßen unterwegs, arbeitet bereits seit einem Jahr in der Notschlafstelle an der Kanalstraße, wo er sein Büro hat. Täglich steuert Brockmann auch im Lockdown bekannte Stellen an, etwa den Hauptbahnhof, die Ruhranlagen oder den Kurt-Schumacher-Platz, macht den Menschen Hilfsangebote, vermittelt sie an Notschlafstellen weiter.

Hat weiterhin geöffnet: Andrea Krause,Leiterin der Ambulanten Gefährdetenhilfe (l.) und die Besucher Dirk Oesterwind, Oliver Hummel, Birgit Kronemeier und Uwe Wenzel in der Teestube der Diakonie an der Mülheimer Auerstraße 49.
Hat weiterhin geöffnet: Andrea Krause,Leiterin der Ambulanten Gefährdetenhilfe (l.) und die Besucher Dirk Oesterwind, Oliver Hummel, Birgit Kronemeier und Uwe Wenzel in der Teestube der Diakonie an der Mülheimer Auerstraße 49. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

In der Notschlafstelle mussten wir Plätze reduzieren, um die Hygienevorschriften umzusetzen – dennoch sind ausreichend Kapazitäten vorhanden“, sagt Brockmann. Denn die Stadt hält flexibel Wohnungen für von Obdachlosigkeit bedrohte oder betroffene Menschen vor.

In Mülheim muss also niemand auf der Straße schlafen. Immer wieder lehnen es Betroffene jedoch ab, diese zu nutzen. Warum? Einige kämpfen mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblematiken und wollen einfach in keine Einrichtung, weiß der Sozialarbeiter. „Viele haben aber auch Hunde und wollen diese nicht über Nacht im Tierheim abgeben“, ergänzt Sven Witz. So oder so: „Man kann niemanden zwingen, nur immer wieder das Gespräch suchen und Angebote machen“, weiß Lukas Brockmann.

Etwa zehn Frauen und Männer schlafen aktuell auf der Straße

„In Mülheim schlafen aktuell etwa zehn Menschen auf der Straße“, weiß Andrea Krause, die die Ambulante Gefährdetenhilfe des Diakonischen Werkes leitet. Zwei Drittel davon seien Männer, ein Drittel Frauen, die meisten von ihnen in der Mitte ihres Lebens. Insgesamt sieht Krause eine Steigerung im Laufe der Jahre: „Als ich 2010 in Mülheim angefangen habe, gab es keinen einzigen Klienten, der draußen geschlafen hat.“

An der Auerstraße 49 betreuen Krause und ihr Team bedürftige Menschen in unsicheren Wohnverhältnissen. Die Teestube im Erdgeschoss ist Anlaufstelle für viele sozial Schwache, hier finden sie Schutz, bekommen täglich Frühstück und ein Mittagessen, warme Kleidung, in der angeschlossenen Beratungsstelle zudem Hilfestellungen, um wieder in ein geregeltes Leben zu finden.

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Teestube: Weniger Besucher im Lockdown

„Seit dem ersten Lockdown sind die Besucherzahlen in der Teestube etwas zurückgegangen“, sagt Andrea Krause. „Im Oktober hatten wir durchschnittlich 31 Besuchskontakte am Tag. Im Vorjahr waren es durchschnittlich 49.“ Was nicht bedeutet, dass der Bedarf gesunken wäre. Im Gegenteil: „Durch den Wegfall der sozialen Kontakte, nehmen die Suchterkrankungen und damit auch die psychischen Probleme zu.“ Zudem machen Einsamkeit und Isolation den Klienten zu schaffen.

„Corona hat vieles erheblich erschwert“, sagt Andrea Krause. So seien nicht nur Angebote wie die Tafel nur eingeschränkt nutzbar, für Klienten und Mitarbeiter sei es zudem schwieriger geworden, Behörden zu erreichen, um Leistungen oder Dokumente zu beantragen. Zudem gebe es erheblichen bürokratischen Mehraufwand.

Wie Bürger Betroffenen helfen können

Wegen Corona: Plätze in Notschlafstellen reduziert

In Mülheim gibt es drei Notschlafstellen für obdachlose Männer an Kanal-, Hof- und Gustavstraße mit insgesamt 36 Plätzen . In der Corona-Pandemie wurden die Betten auf 18 reduziert.

An der Styrumer Augustastraße gibt es acht, bzw. aktuell fünf Schlafplätze für Frauen . „Für Notfälle haben wir immer Wohnungen für Einzelpersonen oder Familien in petto“, so Stadtsprecher Volker Wiebels. Die Zentrale Wohnungsfachstelle der Stadt hilft bei „Wohnungsnotfällen“: 0208/455-5403, -5405, -5009.

Die Teestube der Diakonie an der Auerstraße 49 hat werktäglich von 8 bis 15 Uhr geöffnet und steht Besuchern unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln zur Verfügung. In der angrenzenden Hygienestation können Bedürftige ihre Kleidung waschen oder duschen. Anmeldung erforderlich: 0208/302 45 21.

Die Beratungsstelle der Ambulanten Gefährdetenhilfe ist ebenfalls werktäglich erreichbar: 0208/302 45 11. Bürger, die hilfebedürftige Menschen im Stadtbild sehen, können sich an Streetworker Lukas Brockmann wenden: 0170/4737675. Weitere Info: www.diakonie-muelheim.de

Wie können Bürger sonst noch unterstützen? „Wer helfen möchte, der sollte uns anrufen und einen Hinweis geben, wenn er einen Menschen sieht, der offensichtlich bedürftig ist oder auf der Straße schläft“, sagt Andrea Krause. „Nur dann können wir gezielt Angebote machen und nachhaltig helfen.“