Mülheim. Seit Jahren reflektiert Peter Leitzen grundsätzliche Fragen in öffentlichen philosophischen Abend-Cafés. Was rät die Philosophie in der Krise?
Seit Jahren reflektiert der Mülheimer Ex-Philosophielehrer Peter Leitzen grundsätzliche Fragen in öffentlichen philosophischen Abend-Cafés. Uns allen könnte „ein Quantum Ataraxia – also die Tugend der Seelenruhe – helfen, aus der Krise mental unbeschädigt hervorzugehen“, rät Leitzen zur Corona-Krise. Warum auf Wissenschaft und Politik immer seltener gehört wird, und was vielleicht die Philosophie an Lösungen anbieten kann.
Corona beschäftigt die Menschen und Medien seit fast einem Jahr. Am Anfang hat aber kaum jemand damit gerechnet. Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal davon gehört haben?
Peter Leitzen: Erst einmal habe ich gedacht, das ist weit weg in China, aber doch mit dem Gedanken: „Was ist, wenn es hier ankommt?“ Ganz persönlich habe ich eine Berührung zu dem Thema, weil mein 97-jähriger Vater vor einigen Wochen gestorben ist und er in den letzten Tagen Corona hatte. Ich musste auch in Quarantäne. Gottseidank waren die Tests negativ, ich bin nicht infiziert gewesen. Aber das Bewusstsein, es hätte anders sein können, hat mich vorsichtiger gemacht.
Inwiefern?
Mir ging ein Gedanke durch den Kopf, der vom Virologen Alexander Kekulé stammt: Wenn wir alle zwei Wochen in Quarantäne bleiben, haben wir das Virus besiegt. Es gibt also Möglichkeiten, sich gegen Corona zu wehren. Wir sind nicht hilflos.
Und offenbar glaubt jeder Laie, es besser zu wissen als Experten. Der Kabarettist Rainald Grebe hat darüber ein ironisches Stück geschrieben: „Wissenschaft ist eine Meinung, die muss jeder sagen dürfen“.
Der Satz ist falsch. Wissenschaft ist keine Meinung, sie geht methodisch vor, nach Kriterien, die überprüfbar sein müssen. Es ist dabei wichtig festzuhalten: Wir haben kein abschließendes Wissen, sondern immer nur ein hypothetisches. Der Philosoph Karl Popper formuliert das so: „Wir wissen nicht, wir vermuten nur.“
Ist das nicht Wasser auf die Mühlen der Skeptiker?
Nein. Es gibt mehr Dinge, die wir nicht wissen, als solche, die wir wissen. Das ist offenbar für viele Menschen schwer auszuhalten, die letzte Wahrheiten haben wollen. Wenn Wissenschaft ihnen diese nicht liefert, schlägt Gläubigkeit in Skepsis um. Dennoch: Wissenschaft ist zwar vorläufig, aber nicht beliebig. Man kann durch Experiment und Beobachtung eine Bestätigung für Hypothesen finden. Dann gelten sie – so Popper – als „bewährt“. Wenn wir also keine letzten Wahrheiten haben, dann wenigsten bewährte. Das ist schon viel.
Und dennoch reicht das manchen nicht.
Bei einer solchen Bedrohung haben viele gerne eine einfache, durchschlagende Lösung, die Wissenschaft nicht bietet. Der Soziologe Max Weber hat diese Grenzen in einem genialen Satz zusammengefasst: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“
Also: Wertentscheidungen, Moral können zwar nicht wissenschaftlich begründet werden. Wissenschaft kann aber die Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und dabei unerwünschte Folgen benennen. Eine politische Entscheidung muss dann festhalten, warum bestimmte Nebenwirkungen hingenommen werden müssen oder das Handlungsziel aufgegeben werden muss, weil die moralischen Kosten zu hoch sind.
Wenn es in diesen Zeiten um die Moral geht, warum scheinen dann die Kirchen aktuell kaum Antworten auf Corona zu bieten?
Zum einen haben die Kirchen insgesamt an Ansehen und Achtung verloren. Die Autorität der Kirchen hat gelitten, darum sucht man auch weniger Antworten bei ihnen oder nimmt ihre Antworten weniger zur Kenntnis. Zum anderen gibt es unter den Glaubensgemeinschaften radikale Kräfte wie z.B. die Evangelikalen, die fundamentalistische Positionen vertreten und etwa Corona leugnen. Die Glaubensgemeinschaften müssten aber – anders als von Evangelikalen favorisiert – sich an Erklärungsweisen orientieren, die sich durch die Aufklärung entwickelt haben. Konzessionen an mittelalterliche Glaubensmythen stünden dazu im Widerspruch.
Zwei extreme Reaktionen haben dagegen Schlagzeile gemacht: Demos gegen Corona-Maßnahmen und Toilettenpapier-Käufe – oder zugespitzt das Verdrängen und die Regression. Was rät die Philosophie?
Psychologisch gedeutet, sind das die Reaktionen – wie die Psychoanalyse sagen würde - „analer Charaktere“, von übertriebenen Ordnungsmenschen. Man muss die Erwartung an die Philosophie aber etwas herunterschrauben. Sie ist nicht „Doktor Allwissend“ – und „klugschwätzerisch“ sollte sie schon gar nicht sein. Es gibt aber drei Dinge, in denen Philosophie und Resilienzforschung übereinstimmen.
Erstens, die Stoiker etwa geben den Rat, sich nicht durch Dinge, die nicht in unserer Macht stehen, in Unruhe versetzen zu lassen. Auch wenn Covid-19 eine Gefahr ist, die wir am Ende doch erfolgreich bekämpfen können: Aus Sicht der stoischen Philosophie könnte uns allen ein Quantum „Ataraxia“ – also die Tugend der Unerschütterlichkeit, Seelenruhe, Gelassenheit – helfen, aus der Krise mental unbeschädigt hervorzugehen.
Zweitens, Philosophen wären sich wohl auch in dem Punkt einig, dass man aus Krisen lernen kann. Eine Lernerfahrung aus dieser Krise könnte sein, dass Menschen nur leben können, wenn sie sich gegenseitig Sicherheit geben. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat dafür den Begriff der „Co-Immunität“ gewählt. Wir nehmen Rücksicht auf die Interessen anderer und umgekehrt. Die Einhaltung der AHA-Regeln ist demnach praktizierter Gemeinsinn.
Drittens, das optimistische Denken, in der Philosophie mit der Frage „Was darf ich hoffen?" verbunden, ist eine wichtige menschliche Fähigkeit. Hoffnung steckt in der Annahme, dass sich die Welt durch Handeln bessern lässt. Wer auf Hoffnung verzichtet, verliert die Freiheit.
Die Erfahrung von Solidarität – poetischer ausgedrückt von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit -, die Seelenruhe und die Hoffnung geben uns Widerstandskraft. Das ist doch ein positiver Gedanke für alle Menschen, oder?