Mülheim. Eine wahre Geschenke-Flut erreicht die Jugendlichen im Mülheimer Raphaelhaus. Für sie war das Jahr ein Härtetest. Hier erzählen sie, warum.
Im Mülheimer Raphaelhaus wohnen Kinder und Jugendliche, die zu kämpfen haben. Das Leben dort, in zusammengewürfelten Großfamilien, ist nicht einfach. Aber die Jungen und Mädchen nennen das Kinderheim ihr „Zuhause“. Und wenn man mit ihnen spricht, hört man heraus: Für Weihnachten, wie es dort traditionell gefeiert wird, können sich alle erwärmen. Dafür schlägt bei allen das Herz. Nur gibt es in diesem Jahr ein gewisses Problem. Die allseits geliebte große Feier fällt aus.
Keine große Weihnachtsfeier für alle Kinder
Wie es normalerweise abläuft, schildert Maik (16), der seit sechs Jahren im Raphaelhaus lebt: Am 23. Dezember, nachmittags, treffen sich alle, auch die Kinder aus den Außenwohngruppen, und wandern in einer vielköpfigen Gruppe gemeinsam zur Kirche im Dorf Saarn. Nach dem Gottesdienst wird im Vereinsheim des Ruderclubs zusammen gegessen und gewichtelt. Die Kinder beschenken die Pädagogen und umgekehrt. Wahrscheinlich ist es warm, kuschelig, wuselig.
Auch interessant
Die Corona-Pandemie hat diese schöne Veranstaltung durchkreuzt. Nun bleibt jede der fünf Wohngruppen unter sich. Die von Maik, Gino (18) und einigen anderen will Essen bestellen, klassisch mit Rotkohl und Klößen. Die von Christina (20), Merda (19) und Co. will, dass selber gekocht wird. Aber was? Nächstes Problem, noch ungelöst. „Jeder hat eine andere Vorstellung von Weihnachtsessen.“
So viele Geschenke wie im Corona-Jahr gab es noch nie
Am Heiligen Abend haben sich die Wege immer schon getrennt. Einige Kinder verbringen Weihnachten bei ihren Eltern, Großeltern, Freunden. Für die anderen organisieren die Erzieher eine kleine Bescherung. Und was Geschenke angeht, kommen die Jungs und Mädchen in diesem Jahr wirklich gut weg. So voll wie diesmal war der Gabentisch noch nie, sagt Christian Weise, langjähriger Leiter des Raphaelhauses.
Zuhause für 40 Kinder und Jugendliche
Im Raphaelhaus wohnen zur Zeit 40 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen vier und 20 Jahren, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Familien verlassen mussten.
28 Mädchen und Jungen leben im Haupthaus an der Voßbeckstraße in Saarn, sieben in der Außenwohngruppe Heimaterde, fünf in der Außenwohngruppe in Alpen (Niederrhein).
Von seiner Tradition her ist das Raphaelhaus eine katholische Einrichtung, getragen von den Vereinigten August Thyssen-Stiftungen. Es wird aber schon lange nicht mehr als klassisches Kinderheim geführt, sondern hat familienorientierte Wohngruppen.
Viele Unternehmen haben für die Heimkinder Wunschzettelaktionen gestartet - Aldi, Siemens, das Centro, die Deutsche Post. Auch die Schülervertretung der Luisenschule hat einen Wunschbaum aufgestellt, von dem das Raphaelhaus profitiert. Diese Aktion bewegt Christian Weise besonders: „Wenn Kinder Gleichaltrigen etwas von ihrem Taschengeld schenken, ist das natürlich toll. Keiner kann sich beschweren, dass er zu wenig kriegt.“
Auf Ginos Wunschzettel: „Drei Tassen mit aufgedruckten Sprüchen“
Es beschwert sich auch niemand. Vielmehr wird spekuliert, ob wohl die gewünschten Dinge dabei sind: „eine Kaffeemaschine“ (Christina), „drei Tassen mit aufgedruckten Sprüchen“ (Gino), „Geld, weil ich das momentan am meisten brauche“ (Maik). Ein paar weihnachtlich verpackte Pakete liegen schon auf dem Boden. Merda nimmt sie in Augenschein, prüft sie, hebt sie hoch, schüttelt sie leicht, aufgeregt wie ein kleines Mädchen.
Weihnachten könnte vielleicht doch noch gerettet werden. Aber das Jahr 2020? „War scheiße“, meint Maik. „Anstrengend“, sagt Gino. „Hier in unserem Zuhause gelten die krassesten Regeln überhaupt“, schimpft Merna. Allerdings werden die Corona-Vorschriften so gehandhabt, dass das gesamte Raphaelhaus an der Voßbeckstraße als ein Haushalt gilt, die verschiedenen Gebäude und Gruppen nicht völlig abgeschottet werden. „Anders ist es überhaupt nicht zu handhaben“, sagt der Leiter.
Separates Zimmer für Quarantänefälle
Die Kinder dürfen zwar Freunde besuchen, sollen sich aber möglichst draußen treffen. Einzelne Quarantänefälle gab es auch schon, dafür ist ein Zimmer mit Bad auf einer separaten Etage reserviert. Essen wird gebracht. Gino musste dort schon einige Tage ausharren, bis das - glücklicherweise negative - Testergebnis da war.
Beim ersten Lockdown im März kam erschwerend hinzu, dass die Kinder der Außenwohngruppe in Alpen mit in Mülheim einquartiert wurden. „Die Alpener“, wie die Mülheimer sagen. Sechs, sieben Wochen lang mussten alle zusammenrücken. Maik und sein Mitbewohner waren gezwungen, ihr Zimmer zu räumen, die Stimmung sank auf den Tiefpunkt.
„März und April war die schlimmste Zeit. Wir haben uns fast zerfleischt“
„Der März und April war die schlimmste Zeit“, sagen die Jungs. „Wir haben uns gegenseitig fast zerfleischt.“ Dass es für alle im Haus hart war, räumt auch der Heimleiter ein. Aber anders hätten sie die Betreuung personell nicht bewältigen können.
Eine weitere Herausforderung, auch für die Pädagogen: das Homeschooling. Verschiedene Lerngruppen wurden gebildet, um eine Struktur zu schaffen, alle zwei bis drei Stunden täglich ans Arbeiten zu bringen, betreut von den Erzieherinnen und Erziehern. „Leider ist die Infrastruktur hier, das WLAN, wirklich schlecht“, berichtet Christian Weise, und die Jugendlichen beklagen das genauso. Ein Cube wurde jetzt angeschafft, damit es besser läuft.
„Die digitalen Endgeräte aufzurüsten, ist das nächste Projekt, das wir angehen wollen“, so Weise, pro Wohngruppe soll zunächst ein Laptop angeschafft werden. Einen Sponsor hätten sie schon. Hier immerhin ist Land in Sicht. Auch Christina spricht sich und den anderen Mut zu: „Corona ist blöd. Aber jetzt müssen wir zusehen, dass wir zusammenhalten.“ Sicher kein schlechter Vorsatz für 2021.