Mülheim. Als Kind aus der Familie geholt, mit wenigen Habseligkeiten neu angefangen: Junge Leute, die im Raphaelhaus gelebt haben oder leben, berichten.
Vor hundert Jahren wurde in Mülheim das Raphaelhaus gegründet, dessen Hauptsitz seit 1967 auf dem Auberg liegt. Die Kinder, die hier einziehen, bringen oft wenig Gepäck mit, aber schwere Bürden. Fünf junge Leute berichten...
Nonne stand immer daneben
„Ich bin als Neunjährige mit meinen beiden Schwestern hierher gekommen, die eine war elf, die andere erst zwei Jahre alt. Wir waren gemeinsam in einer Wohngruppe, insgesamt acht Kinder, die anderen haben uns gut aufgenommen. Woran ich mich besonders erinnere: In der ersten Zeit war noch die letzte Nonne hier, eine vom alten Schlag. Die fand ich sehr stressig. Nicht böse, aber streng. Wo man saß und stand, sie war immer neben einem.
Anfangs habe ich nur meiner besten Freundin erzählt, dass ich jetzt im Heim wohne. Man schämt sich ja auch etwas. Die Freundschaften, die man hier schließt, sind intensiver, weil die anderen nachempfinden können, was man mitgemacht hat. Wie es einem geht.
Zuerst hatte ich die Einstellung: Die Erzieher haben mir gar nichts zu sagen. Aber jetzt, da ich älter bin, finde ich es gut, dass es Leute gibt, die sich um Kinder wie uns kümmern. Meine kleine Schwester ist in eine Pflegefamilie gekommen, aber neidisch war ich absolut nicht. Die machen das schon super hier. Ich weiß nicht, was sonst aus mir geworden wäre. Mittlerweile arbeite ich als Altenpflegerin und wohne immer noch in Mülheim.“ (Yvonne, 27, hat von 2001 bis 2008 im Raphaelhaus gelebt)
Anfangs total traurig
„Ich bin 2010 ins Raphaelhaus gekommen. Ich weiß noch genau, dass ich mit meiner Mutter im Bus hierher gefahren bin. Vorher hat sie mit mir darüber gesprochen. Als ich hier war, bin ich auf mein Zimmer gegangen, habe meine Sachen ausgepackt und war total traurig. Die Erzieher haben versucht, mich zu trösten. Anfangs durfte ich keinen Kontakt zu meiner Mutter haben. Später hat sie mich dann besucht, und am Ende durfte ich auch öfter mal ein Wochenende bei ihr verbringen. In der Wohngruppe habe ich vier, fünf Jahre lang das Zimmer mit einem Jungen geteilt, der war an manchen Tagen voll schlecht drauf und wollte alle zusammenschlagen, und an anderen Tagen wollte er dauernd etwas mit uns gemeinsam unternehmen. Echt anstrengend.
Vor zwei Monaten bin ich wieder zu meiner Mutter gezogen. Nachdem ich so lange mit anderen Leuten zusammengelebt habe, auch wenn es nicht immer die besten waren, hatte ich keine Lust auf eine eigene Wohnung. Mit der Schule bin ich jetzt fertig und suche einen Ausbildungsplatz. Elektrotechnik.“ (Pascal, 18, lebte von 2010 bis Juni 2018 im Raphaelhaus)
Direkt aus der Schule geholt
„Meine Schwester wurde schon ein Jahr früher als ich aus der Familie geholt. Bei mir war es meine damalige Klassenlehrerin in der Grundschule, die sich um mich gekümmert und dafür eingesetzt hat, dass etwas passiert. Mich haben dann am letzten Tag vor den Sommerferien zwei Leute vom Jugendamt aus der Schule abgeholt, ein Mann und eine Frau. Meine Lehrerin war eingeweiht. Ich hatte damals nur meine Schulsachen dabei und die Kleidung, die ich anhatte. Alles andere habe ich mit den Erziehern neu gekauft. Ich hab hier im Raphaelhaus ganz von vorne angefangen. Mittlerweile weiß ich, dass es gut gewesen ist, hier zu leben. Ich hätte sonst auf keinen Fall den Realschulabschluss geschafft. Früher habe ich nie Hausaufgaben gemacht, und es hat sich auch keiner drum gekümmert. Zu Hause gab es keine Zuverlässigkeit, und irgendwann wollte ich da auch gar nicht mehr hin. Ich habe gerade mein Fachabi im Bereich Sozialwissenschaften bestanden und mich für ein Freiwilliges Soziales Jahr im Krankenhaus beworben. Danach möchte ich Kinderkrankenschwester werden.“ (Cerine, 20, lebte von 2007 bis 2016 im Raphaelhaus)
Weihnachtsfeier ist das Tollste
„Vor anderthalb Jahren ist meine Mutter gestorben. Mein Vater lebte von uns getrennt. Ich bin dann für einige Monate zu ihm gezogen, aber das hat überhaupt nicht funktioniert. In meiner Wohngruppe sind Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren, die auf ein selbstständiges Leben vorbereitet werden sollen. Da ich keine Geschwister habe, war es erst krass für mich, dass es immer so laut und unruhig ist. Man fühlt sich nicht wohl dabei. Trotzdem habe ich mich inzwischen eingelebt.
Am tollsten finde ich, wie wir hier Weihnachten feiern. Am 23. Dezember gehen erst alle gemeinsam in die Klosterkirche in Saarn, dann sitzen wir in den Wohngruppen zusammen, es gibt einen Tannenbaum und Geschenke. Heiligabend habe ich dann bei der besten Freundin meiner Mutter verbracht. Wenn irgendwas ist, kann man mit den Pädagogen immer reden. Ich lenke mich auch gerne mit Büchern ab, Thriller oder Fantasybücher, um in eine komplett andere Welt zu gelangen. Ich gehe aufs Gymnasium und möchte Abitur machen. Später würde ich gerne Journalistin werden. Kriminalreporterin.“ (Nina, 16, lebt seit anderthalb Jahren im Raphaelhaus)
Raus aus dem Teufelkreis
„Ich bin im Irak geboren und mit meiner Mutter und meinem Bruder 2009 nach Deutschland gekommen. Vorher haben wir mehrere Jahre in Syrien gelebt. 2013 ist dann auch mein Papa hierhin gezogen, und mit ihm bin ich absolut nicht klar gekommen. Ich habe angefangen, mich selbst zu verletzen, war ganz schlecht in der Schule.
Anfang 2014 bin ich hierhin gezogen, im Oktober ist mein Vater verstorben, ich bin dann später für einige Wochen zurück zu meiner Mama gezogen. Sie ist aber psychisch krank und spricht kaum Deutsch. Zu Hause musste ich alles Mögliche übernehmen, Behördengänge, oft meine Mutter ins Krankenhaus bringen. Die Schule habe ich total vernachlässigt und geschwänzt.
Im Raphaelhaus konnte ich erst mit den Regeln überhaupt nicht umzugehen. Ich hab auch Drogen konsumiert. Hier sind Sachen passiert, dass ich dachte, ich komm nie raus aus dem Teufelskreis. Aber die Erzieher haben immer an mich geglaubt und mich wieder hoch geholt. Sie ermöglichen uns, überhaupt eine Kindheit zu erleben. Ich hab jetzt einen sehr guten Realschulabschluss geschafft und möchte bald ein FSJ beginnen.“ (Merna, 17, lebt seit vier Jahren im Raphaelhaus)
Erstes Ehemaligentreffen beim Sommerfest
Am Samstag, 1. September, feiert das Raphaelhaus Sommerfest und seinen 100. Geburtstag. Alle sind eingeladen zum Hauptgebäude an der Voßbeckstraße 47. Die Feier beginnt um 14 Uhr mit einem Gottesdienst und endet gegen 18 Uhr.
Im Rahmen des Sommerfestes soll auch zum ersten Mal ein Ehemaligentreffen stattfinden.