Mülheim. Ilka Käufer ist Sozialpädagogin an einer Mülheimer Realschule, aber auch „Miss Trainingsraum“ oder „Frau Corona-Kalender“. Ein Interview.
An der Realschule Stadtmitte gibt es acht Menschen, die soziale Arbeit machen - mit verschiedenen Schwerpunkten. Eine davon ist Ilka Käufer (56), Diplom-Sozialpädagogin, angestellt bei der Diakonie. Ihr können sich die Mädchen und Jungen anvertrauen.
Warum gibt es an der Realschule Stadtmitte so viele Sozialarbeiter? An der Realschule Broich zum Beispiel macht das eine Person alleine?
Ilka Käufer: Weil wir hier den gebundenen Ganztag haben, für den ich unter anderem zuständig bin. Und weil die Schülerschaft auch bunt gemischt ist.
Über die Schule
Rund 700 Schülerinnen und Schüler besuchen die Realschule Stadtmitte, eine von drei Realschulen in Mülheim. Etwa 55 Lehrkräfte unterrichten dort.
Zum Schulkonzept gehört der gebundene Ganztag, also verpflichtender Nachmittagsunterricht für alle Jahrgangsstufen. Die Betreuung ist dort kostenlos.
Laut Rektorin Sabine Dilbat ist die Schule dem „Standorttyp Stufe 5“ zuzuordnen. Kennzeichnend dafür ist unter anderem ein hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, außerdem leben die meisten in ärmeren Wohngebieten mit nur wenigen Ein- oder Zweifamilienhäusern.
Was zeichnet die Schule aus?
Wir haben einen hohen Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund und etliche aus sozial schwachen Familien, verbunden mit den entsprechenden Problemen. Viele Kinder kommen mit ihren Sorgen zu uns - gerade in der dunklen Jahreszeit, die jetzt angefangen hat.
In welche Probleme werden Sie eingeweiht?
Alles. Angefangen von Stress und Ärger zu Hause - in der Pubertät sind Eltern ja selten einfach - über Schläge und häusliche Gewalt bis hin zum Ritzen und zu Schülern, die ernsthafte Selbstmordgedanken haben.
Wenn Sie erfahren, dass jemand Gewalt erlebt - was können Sie tun?
Wir haben ein gutes Netzwerk, das wir hinzu ziehen können: die schulpsychologische Beratungsstelle etwa oder das SPZ. Letztens hat jemand gesagt: „Zu Hause halte ich es nicht mehr aus.“ Da haben wir eine Meldung an den KSD gemacht. Ich bin auch ausgebildete Kinderschutzfachkraft.
War es ein Junge oder ein Mädchen?
Mehr darf ich zu diesem Fall nicht sagen. Wir unterliegen der Schweigepflicht. Oft beschweren sich auch Schüler bei uns über die „blöden Lehrer“. Dann gehe ich zu dem betreffenden Kollegen, um auch die andere Seite zu hören.
Oft beschweren sich auch Schüler über „blöde Lehrer“
Die Schulleiterin schaltet sich ins Gespräch ein:
Sabine Dilbat: Ich sehe euch ein bisschen als Puffer. Manchmal ist man selber emotional so geladen, dann ist eine Vermittlerposition total wichtig. Das erleichtert den Alltag ungemein.
Wie hat sich die Schulsozialarbeit durch Corona verändert?
Ilka Käufer: Sehr stark. Vor allem, weil es im Ganztag momentan keine Frühbetreuung gibt und keine Öffnung in den Pausen. Sonst ist das immer meine Chance, mit dem einen oder anderen zu sprechen: ,Wie geht es dir? Wie läuft es zu Hause?’ So bekommt man einen Bezug zu den Schülern, sie wissen, wir haben ein offenes Ohr. Jetzt muss ich sie auf dem Schulhof finden - oder sie den Weg zu mir. Das erschwert meine Arbeit.
Einige Kinder sind nicht mehr erreichbar
Wie sind Sie und die Schüler durch den Lockdown gekommen?
Ich habe gemeinsam mit einer Kollegin ein Konzept erarbeitet zur Vorgehensweise bei Kindeswohlgefährdung. Der Unterricht lief über eine Schul-App, aber zu einigen Schülern hatten wir gar keinen Kontakt mehr. Teilweise haben wir dann Briefe zu Hause eingeworfen: dass wir uns Sorgen machen und sie sich bitte melden sollen.
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Hat das bei allen funktioniert?
Zu manchen konnten wir Kontakt herstellen, zu anderen nicht. Es gibt einige Schüler, die können wir ohnehin nicht mehr erreichen. Ich habe außerdem angefangen, für die Schul-App einen Corona-Kalender gegen Langeweile zu machen: Anregungen für jeden Tag.
Welche zum Beispiel?
Sucht euch einen Stein und malt ihn an. Lobt mal eure Eltern. Wir hatten auch eine Essens-Challenge, bei der es darum ging, Essen auf dem Teller schön zu arrangieren und zu fotografieren. In der Zeit bin ich von „Miss Trainingsraum“ zu „Frau Corona-Kalender“ mutiert.
Wer massiv den Unterricht stört, muss trainieren
„Miss Trainingsraum“?
Eigentlich ist es unsere Schulbibliothek: Wer massiv den Unterricht stört, wird dort hingeschickt, mit einem Laufzettel, auf dem steht, was der Schüler gemacht hat. Wir entwickeln dann gemeinsam Anregungen, wie derjenige sein Verhalten ändern kann. Einen Rückkehrplan, der auch schriftlich festgehalten wird. Beim dritten Besuch im Trainingsraum gibt es ein Telefonat mit den Eltern. Im Moment ist das Verfahren wegen Corona aber leider auf Eis gelegt.
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Nach dem Interview führt Ilka Käufer durch die Gänge der Realschule, um den Trainingsraum zu zeigen. Auf dem Weg dorthin begrüßt sie einen älteren Schüler - er sitzt auf einem Tisch vor dem Klassenraum. Die Tür steht offen.
Ein Kandidat, der jetzt normalerweise in den Trainingsraum müsste?
Auf jeden Fall. Ich kenne ihn ganz gut.
Draußen sind 13 Grad und Regen, er trägt eine kurze Hose.
Einige der Jungs haben eine Challenge laufen: Wer es schafft, den ganzen Winter hindurch in kurzer Hose zu kommen.
Das ist ja völlig verrückt.
Das sagen Sie.