Der NRW-Trend, dass Jugendämter vermehrt Kinder aus problematischen Familienverhältnissen rausholen, findet sich in Mülheim nicht bestätigt. Die Zahl der Inobhutnahmen ist gesunken.
Die Stadt erklärt das mit ihrem vor Jahren eingeführten Frühwarnsystem, für das sie NRW-weit als Vorbild gilt. In Mülheimer Familien kommt Hilfe so früh an, dass das letzte aller Mittel, die Trennung von Kind und Eltern, seltener notwendig wird.
Nahezu 10 000 Kinder sind im letzten Jahr in NRW ihren Eltern entzogen worden. Das sind 4,5 % mehr als im Jahr zuvor. Mülheim ist da Ausreißerin. Wurden hier im Jahr 2008 noch 48 Kinder wegen akuter Gefährdung fremduntergebracht, waren es im Jahr 2009 „nur“ 35. Die Leiterin des Kommunalen Sozialen Dienstes (KSD), Martina Wilinski, und ihr Vorgesetzter, Sozialamtsleiter Klaus Konietzka, werten das auch als Erfolg – nach dem Motto: Wer früh in Familien hilft, kann Kinder dort halten, wo sie hingehören.
Seit 2007 arbeitet der KSD mit weitreichendem Frühwarnsystem. Wo immer es Anzeichen der Kindeswohlgefährdung gibt, ist ein Draht gelegt. Insgesamt hat der KSD mit weit mehr als 100 Einrichtungen am Ort Vereinbarungen getroffen, dass er eingeschaltet wird, wenn Alarmzeichen zu sehen sind. Kitas, Schulen, Krankenhäuser und -kassen, Kinderärzte und andere Institutionen, die mit Kindern zu tun haben, sind im Netzwerk verbunden. Wo Probleme erkannt werden, setzen sich die Akteure an einen Tisch, um zu erörtern, wie einem Kind in einer misslichen Lage geholfen werden kann.
Das Instrumentarium der Hilfen ist breit gefächert, es beginnt mit der Schwangerschaftsberatung. Eltern von Neugeborenen werden kontaktiert, neun von zehn Eltern nehmen das Angebot des KSD für einen Erstbesuch an. Da können Problemlagen früh erkannt und erste Hilfen, etwa die Teilnahme an einem Familienbildungskurs, eingestielt werden.
„Wir wollen Probleme in ihrer Entstehung erkennen, nicht erst, wenn die Situation eskaliert“, so Konietzka. Der Familienbesuchsservice kurz nach der Geburt helfe, die Schwelle zu den Eltern zu übertreten, ohne dass diese Angst vor behördlichem Eingreifen bekämen, so Wilinski. „Es ist so einfacher für Eltern in schwierigen Lebenslagen, unsere Angebote anzunehmen.“
Arbeitsbelastung verdoppelt
Der KSD hat sich dafür auch räumlich den Familien genähert, er hat Anlaufstellen in vier Stadtteilen eingerichtet, wo von der Sozialarbeit über flexible Erziehungshilfe bis hin zur Jugendgerichtshilfe alle Kernkompetenzen vereint sind. Unterstützung, die im Haus nicht abgerufen werden kann, wird vom KSD organisiert.
Kinderschutz. Ein höchst sensibles Thema. Greift eine Behörde in Familien zu spät ein, der Bremer Fall Kevin machte da im Herbst 2005 bundesweit Schlagzeilen, steht sie sofort am Pranger. Vielleicht ist auch so die gestiegene Zahl der Inobhutnahmen von Kindern in NRW zu erklären. Denn den Ämtern werden seither deutlich mehr Verdachtsfälle angezeigt, wo Kinder möglicherweise vernachlässigt, geschlagen oder auf andere Art und Weise in ihrem Wohl gefährdet werden. Die Personaldecke der Jugendämter aber ist nicht entsprechend mitgewachsen. In vielen Städten klagen Sozialarbeiter aus dem KSD über Überlastung, jeder ist täglich mit dem Risiko konfrontiert, einem Kind zu spät adäquate Hilfe zukommen zu lassen. Da ist vielleicht der Reiz groß, auf Nummer sicher zu gehen und Kinder von den Eltern zu trennen.
In Mülheim ist der Trend, wie gesagt, nicht zu beobachten. Die Belastung der Sozialarbeiter aber hat zugenommen. Seit dem tragischen Tod des kleinen Kevin vor fünf Jahren hat jeder einzelner Mitarbeiter des Mülheimer KSD fast doppelt so viele Fälle zu betreuen, obwohl das Team schon um fünf Mitarbeiter verstärkt worden ist. „Wir ermitteln zurzeit unseren Personalbedarf“, bestätigt Konietzka. „Wir müssen reagieren, um die notwendigen Hilfen auch geben zu können.“