Mülheim. Reinhard Jehles, Begründer der Flüchtlingshilfe “Willkommen in Mülheim“, erinnert sich selbstkritisch an die ereignisreichste Zeit seines Lebens.

Reinhard Jehles war das Gesicht der Mülheimer Ehrenamtlichen, der Mann hinter dem "Wunder von Mülheim". 2014 gründete er die Initiative "Willkommen in Mülheim"(WiM) eher zufällig, weil er Möbel für eine irakische Familie suchte, die zwar eine Wohnung hatte, aber kein Bett, um darin zu schlafen. Heute, fünf Jahre nach Merkels Satz "Wir schaffen das" ist Reinhard Jehles überzeugt: "Wir haben in Mülheim richtig viel geschafft."

Als Reinhard Jehles zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise in 2015 gefragt wurde, was er sich für die Zukunft wünsche, antwortete er: "Dass die Initiative nicht mehr gebraucht wird.“ Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen - sein Verein löste sich Ende 2018 auf.

Schwer gefallen, von Hundert auf Null herunterzufahren

Seitdem ist es ruhig geworden um den kräftigen Mann mit dem Rauschebart, diesem Typ "Macher", der aus dem Internet-Grüppchen das größte Spenden-Netzwerk der Stadt schuf. An diesem sonnigen Sommernachmittag ruht er im Korbstuhl seines Saarner Gartens an der Quellenstraße und beobachtet von der Terrasse aus die Bienen und Hummeln bei der Arbeit. Die Zigaretten hat der 67-Jährige mittlerweile gegen einen Dampfer getauscht, ein Stock stützt ihn beim Gehen und Stehen. Schwer sei es anfangs gewesen, von Hundert auf Null zurückzufahren. "Aber ich bin froh, dass es ruhiger ist", gibt er zu. Denn: "Es war nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen."

"Wir sind damals ziemlich naiv an die Sache rangegangen, in Aktionismus verfallen", blickt Jehles selbstkritisch zurück. "Wir waren mit der Entwicklung und dem wachsenden Spendenaufkommen überfordert." Ein wesentlicher Fehler sei es gewesen, die Spendenausgabe den Geflüchteten selbst zu überlassen. "Es kamen viele Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen", erklärt er. "Für uns waren das alles einfach Flüchtlinge." Dass diese Menschen trotz gemeinsamer Fluchtgeschichte Abneigungen gegeneinander haben, passte nicht in die heile Hilfswelt der Ehrenamtlichen. "Da hat etwa ein Helfer, selbst Flüchtling, einer andersgläubigen Frau an der Spendenausgabe gesagt, es gäbe keine Hosen mehr - obwohl das Lager voll davon war." Viele weitere, ähnliche Vorfälle habe es gegeben.

Geschenkte Tüten lagen zerrissen auf der Schloßstraße

Ein Schlüsselerlebnis habe schließlich unter anderem zur endgültigen Schließung der Spendenausgabe an der Friedrich-Ebert-Straße in der Innenstadt geführt. "Wir hatten eine Aktion mit 500 Schultüten für bedürftige Kinder." Nachdem alle Spenden ausgeteilt waren, fanden die Helfer zahlreiche Tüten zerrissen auf der Schloßstraße. "Die Süßigkeiten hatten die Kinder herausgenommen, den Rest einfach weggeschmissen." Da wussten sie: "Die große Not gibt es nicht mehr."

Auch intern kam es in der WiM zu Konflikten. "Es gab anonyme Drohungen in Form von Postkarten und Briefen gegen mich", erinnert sich Jehles. Da waren nicht nur Anfeindungen aus der rechten Szene, sondern Angriffe aus den eigenen Reihen. "Es gab Reibereien mit Gruppenmitgliedern, die nicht mit meiner Art der Führung klarkamen." Der Streit gipfelte "in einer anonymen Anzeige bei Zoll und Finanzamt wegen Steuerhinterziehung", sagt Jehles. Mittlerweile sei das Verfahren eingestellt worden.

Viel gelernt, viele interessante Menschen kennengelernt

Dennoch: "Von den fünf Jahren, in denen es die WiM gab, möchte ich keinen Tag missen", resümiert Jehles. "Ich habe so viel lernen, so viele Menschen kennenlernen dürfen." Freundschaften seien entstanden, auch zu einigen der Flüchtlingsfamilien habe er noch Kontakt, ebenso zu einigen der "Helferleins", wie Jehles seine ehemaligen Mitstreiter nennt. Er erinnert sich gerne, etwa an die großen Hilfstransporte in den Nordirak oder nach Calais. Und natürlich die Besuche bei den Bundespräsidenten im Schloß Bellevue, zu denen ihn Flüchtlinge begleiteten. "Das verzeiht mir meine Frau bis heute nicht", scherzt Jehles.

Aus den Räumen an der Solinger Straße, wo auch das Warenlager der WiM untergebracht war, ist Jehles mit seiner Druckerei für Dekordruck mittlerweile ausgezogen. Diese hat er zu den Fliedner-Werkstätten verlagert, wo er bereits früher in der Behindertenarbeit beschäftigt war. "Damit bin ich sehr glücklich", sagt er.

Beispiele der Integration in der Nachbarschaft

"Wir schaffen das" - hatte Angela Merkel Recht? "Es hat funktioniert", nickt Reinhard Jehles, schwingt wie zum Beweis seinen Stock hoch und richtet ihn auf die benachbarten Mehrfamilienhäuser. "Ich brauche mich nur umzuschauen: In den Häusern lebten damals vor allem ältere Menschen." Dann habe die Wohnungsgesellschaft nach und nach geflüchtete Familien in den Wohnungen untergebracht. "Heute ist hier wieder was los, alle leben friedlich als Nachbarn zusammen. Das haben wir gemeinsam geschafft."

INFO:

- Regelmäßig bekommt Reinhard Jehles auch heute noch Anrufe, "von Gebern und Nehmern", denen er Kontakte vermittelt. Würde er ein solches Netzwerk wie WiM noch einmal aufbauen? "Nicht in Eigeninitiative", sagt Jehles. "Ich würde mich an bestehende Vereine wenden, die kompetente Leute, die Mittel und das Knowhow haben, um zu helfen."

- In Mülheim gibt es die Möglichkeit, Möbel, Alltagsgegenstände oder Kleidung an Bedürftige zu spenden, etwa beim DRK oder dem Diakoniewerk an der Georgstraße, Info und Kontakt: 0208 / 45 95 3 - 13.