Mülheim. Dem Leiter eines Mülheimer Altenpflegeheims machen die Lockerungen der Corona-Auflagen größte Sorgen. Er hält sie sogar für lebensgefährlich.

In einem offenen Brief kritisiert Oskar Dierbach, Geschäftsführer der Evangelischen Altenhilfe Mülheim, äußert scharf die jüngsten Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen in Nordrhein-Westfalen. Er nennt sie "unverantwortlich" und "grob fahrlässig".

Seit vielen Jahren ist Dierbach Pflegedienstleiter der Häuser Ruhrgarten und Ruhrblick in Mülheim-Menden. Derzeit leben dort 105 alte Menschen. Verdachts- und Quarantänefälle habe es zwar schon gegeben, eine Corona-Infektion aber noch nicht. "Gott sei Dank", sagt Dierbach. Aber er sieht für die Senioren, ausnahmslos Hochrisikopatienten, und für seine rund 150 Beschäftigten, eine akute "Gesundheits- und Lebensgefährdung".

So drastisch formuliert es Dierbach in einem offenen Brief, den er am Freitag an die Angehörigen der Bewohner gerichtet hat. In Kopie setzte er die Diakonie als Träger der Einrichtung und bewusst auch die NRW-Staatskanzlei und das Landesgesundheitsministerium. "Diejenigen, die ich kritisiere, haben das Schreiben auch bekommen."

"Täglicher Pendelverkehr" von Pflegekräften, Ärzten, Handwerkern

Dierbach wehrt sich gegen Tempo und Umfang der Lockerungen, da durch den "täglichen Pendelverkehr" von Pflegekräften, Ärzten, Therapeuten oder auch Handwerkern das Infektionsrisiko massiv steige. Er argumentiert: "Man hätte nach der Vollbremsung in NRW erst die Pflegeeinrichtungen sicher machen müssen, und dann langsam wieder anfahren."

Auf Nachfrage, welche Maßnahmen er für besonders drängend hält, nennt Dierbach zum einen die Entwicklung von Corona-Schnelltests für alle, die das Haus betreten: "Noch haben wir solche Tests nicht, aber wir sind nahe dran." Zum anderen würden hochwertige FFP2-Masken in den Pflegeheimen dringend benötigt. Sie fehlen weiterhin: "Statt dessen wird der Eindruck erweckt, mit einem Stofflappen vor der Nase sei man sicher."

Sicherheit mit einem Stofflappen vor der Nase?

Für sein Haus habe er "für viel Geld auf verschiedenen Kanälen" Schutzmasken bestellt, nur seien sie noch nicht geliefert. Die Pflegekräfte benutzen einfachen Mund-Nasenschutz oder selbst genähte Masken. Auch die Idee, "Mitarbeiterhotels" einzurichten, bringt Dierbach ins Gespräch, obwohl ihm klar ist, dass dies nur auf freiwilliger Basis möglich wäre. Es würde bedeuten, dass die Beschäftigten wochenweise in der Einrichtung arbeiten, nicht mehr schichtweise.

"Es hat in den vergangenen Jahren viele Fehlentscheidungen für die Pflege gegeben", schreibt Dierbach in seinem offenen Brief. Politik sei dem Irrtum erlegen, der Markt werde es schon richten. "Deshalb stehen wir in der Coronakrise in einer denkbar schlechten Ausgangsposition." Daran änderten auch die geplanten Bonuszahlungen und "wohlfeilen Sonntagsdankesreden" nichts. "Es muss endlich Schluss damit sein, Leben und Gesundheit der Pflegebedürftigen und Pflegekräfte zu gefährden", fordert Dierbach.

Dankbare Rückmeldungen von Angehörigen

Auf sein pointiertes Schreiben habe er über das Wochenende schon mehrere Rückmeldungen bekommen. Anrufe von Angehörigen: "Sie sind mir sehr dankbar für den Brief, weil sie ebenfalls den Eindruck haben, dass Tempo und Reihenfolge der Maßnahmen nicht stimmen."

Oskar Dierbach, der über jahrzehntelange Erfahrung in der Altenpflege und Einrichtungsleitung verfügt, positioniert sich gerne als kritischer Kopf mit kantigen Ansichten. Unter anderem gehört er zu den Initiatoren der "Qualitäts-Offensive Pflege", die 2013 in Mülheim begründet wurde. Vor gut einem Jahr erst war NRW-Gesundheitsminister Laumann im Haus Ruhrgarten zu Gast, um sich vor Ort über das Pflegekonzept zu informieren.

Intelligente Lösungen für Besuche im Pflegeheim entwickeln

Laumanns Vorstoß, ein Besuchskonzept für die Altenheime in der Corona-Krise zu entwickeln, um die Bewohner aus der Isolation zu holen, findet bei Dierbach durchaus Zustimmung. "Wir und viele andere Heime arbeiten an intelligenten Lösungen, damit Besucher und Bewohner sich sehen können, ohne sich körperlich nahe zu kommen." In der Form, dass die einen draußen bleiben, die anderen im Haus, mit Blickkontakt und Gesprächen per Telefon.

Die jüngsten Lockerungen im öffentlichen Bereich sind für Oskar Dierbach aber schlicht inakzeptabel. Sein offenes Statement habe er mit niemandem abgestimmt. Es wird auch in dieser Schärfe nicht von allen Einrichtungsleitungen getragen, das haben erste Nachfragen dieser Redaktion ergeben. Dierbach steht zu seinem Vorstoß: "Ich wollte auf schnellem Wege die Diskussion eröffnen." Zweifellos wird ihm das gelingen.

BISLANG KAUM CORONA-FÄLLE IN MÜLHEIMER PFLEGEHEIMEN

In vielen Pflegeeinrichtungen in NRW hat es bereits Coronavirus-Ausbrüche geben. Ein Drittel der bisherigen Covid-19-Todesfälle betraf Altenheimbewohner.

In Mülheim wurden bislang lediglich einige Infektionsfälle in einem Seniorenheim der Fliedner-Stiftung gemeldet, dies liegt schon einen Monat zurück. Mitte April wurde eine Betreuerin im Wohnstift Uhlenhorst positiv auf Covid-19 getestet.

Weitere Infektionen in Altenpflegeheimen gab es bislang nicht, bestätigte die Stadt auf Anfrage.