Mülheim. Das „Netz 23“ mit Kürzung von rund 30 Prozent in Mülheims Nahverkehr-Angebot ist vom Tisch. Offen ist, wie es nun weitergeht. Es wird sondiert.

Den Entwurf für ein „Netz 23“, mit dem das Angebot im Mülheimer Nahverkehr nach Vorschlag von Ruhrbahn und Stadtverwaltung mit einem Federstrich um rund 30 Prozent gekürzt worden wäre, hat die Politik ad acta gelegt. Der Haushaltsbeschluss von SPD, CDU und Grünen steht aber unverändert unerledigt da: Bis 2023 sollen im ÖPNV sieben Millionen Euro eingespart werden. Was nun?

Die Zeit drängt: Den ersten Sparbeitrag in Höhe von 2 Millionen Euro muss Stadtkämmerer Frank Mendack im Sommer 2020 in seinem Haushaltsentwurf fürs Folgejahr nachweisen. Die Finanzaufsicht der Bezirksregierung wird genau hinschauen. Schließlich hängt daran die millionenschwere Hilfe für die klamme Stadt aus dem Stärkungspakt.

„Die Politik muss jetzt sagen, was sie wirklich will“

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Im Redaktionsgespräch äußerten sich nun Mendack, Beteiligungschef Hendrik Dönnebrink und Verkehrsdezernent Peter Vermeulen dazu, wie die Stadtverwaltung im Ringen mit der Politik weiter vorgehen will. Fassungslosigkeit über die jüngsten politischen Beschlüsse ist zu vernehmen, ein Stück weit auch Resignation.

Auf jeden Fall wird die Verwaltung den Ball nun wohl bei der Politik liegen lassen. „Wir werden jetzt nicht weiter unsere Arbeitszeit vergeuden“, sagt etwa Dönnebrink. „Die Politik muss jetzt sagen, was sie wirklich will.“ Der Frust sitzt hörbar tief, dass die Etat-Koalition den Entwurf für das „Netz 23“ so schnell hat fallen lassen.

Kämmerer will nach Ferien Sondierungsgespräche führen

Im Juni demonstrierten rund 450 Menschen auf dem Rathausmarkt gegen die Kürzungspläne im ÖPNV. Im Bild: Redner Rainer Sauer von der Gewerkschaft Verdi.
Im Juni demonstrierten rund 450 Menschen auf dem Rathausmarkt gegen die Kürzungspläne im ÖPNV. Im Bild: Redner Rainer Sauer von der Gewerkschaft Verdi. © Martin Möller / Funke Foto Services | Martin Möller

Kämmerer Mendack will die Fraktionsspitzen nach den Sommerferien zum Gespräch einladen und sondieren, wohin die Reise gehen soll. Die sieben Millionen stehen. Wolle sie die Politik nicht im ÖPNV heben, müssten Alternativen her, so der Kämmerer. „Abstrakte Veranschlagungen helfen uns nicht mehr“, sagt er.

Wieder eine Steuererhöhung? Mendack zuckt fast zusammen. Es könne doch nicht im Interesse der Politik sein, „indirekt über die Grundsteuer zu finanzieren, dass leere Straßenbahnen und Busse durch die Gegend fahren“. Das sei „auch nicht klimafreundlich“. Eine Erhöhung der Gewerbesteuer von 550 auf 580 Hebesatz-Punkte stehe ohnehin im Plan, da sei das Ende der Fahnenstange erreicht. Also Sparen in der Offenen Ganztagsbetreuung?

Prognose: Angebotsausweitung führt immer zu mehr Defizit

Die Grünen haben schon ein Alternativkonzept für ein Liniennetz vorgelegt. Verkehrsdezernent Vermeulen sieht auch bei den großen Fraktionen die Tendenz, eher noch auf einen ÖPNV-Ausbau zu setzen. Mit mehr Angebot und über eine verbundene Attraktivitätssteigerung das Defizit im Ruhrbahn-Betrieb zu senken, hält das Verwaltungstrio aber für eine Mär. Jedes Zusatzangebot werde einen neuen Zuschussbedarf generieren.

„Es bleibt dabei: Wir haben eine ganz tolle Infrastruktur für den ÖPNV, aber dafür leider 80- bis 100.000 Einwohner zu wenig“, sagt Dönnebrink. Er, Mendack und Vermeulen machen den vergleichsweise ausufernden Zuschussbedarf im örtlichen Nahverkehr auch im Städtevergleich mit dem Essener Fusionspartner deutlich.

Pro Einwohner hält Mülheim mehr ÖPNV-Infrastruktur als Essen vor

In Relation zu den Einwohnerzahlen lasse sich das festmachen: Essen hat 3,4 Mal so viele Einwohner, aber nur 1,6 Mal so viele Straßenbahn-Haltestellen. Auch für Bushaltestellen (Faktor 2,35) und U-Bahnhöfe (2,35) gilt das. Ebenso für die Linienlängen bei Bus und Schiene (jeweils 2,3).

Einzig in einem Punkt hinkt Mülheim demnach leicht hinter Essen her: Weil die Takte dünn sind, bietet die Ruhrbahn in Mülheim leicht unterdurchschnittlich viele Fahrt-Kilometer an. Auch hier der Vergleich gemäß Einwohnerzahlen: Bus (3,5), U-/Stadtbahn (5,2) und Straßenbahn (3,4). Die Zahlen ließen sich aber auch mit weniger Schärfe interpretieren, wenn man berücksichtigt, dass Mülheim zersiedelter ist als Essen; das Essener Stadtgebiet ist nur 2,3 mal so groß wie Mülheim. . .

Vermeulen: Essen nutzt sein Schienennetz viel effektiver als Mülheim

„Wir können im vorhanden Netz nicht noch mehr fahren“, sagt Dönnebrink und schlussfolgert: „Wir haben ein viel zu großes Netz.“ Strukturelle Einschnitte seien nötig, um die Kosten in den Griff zu bekommen. Das sieht der Verkehrsdezernent nicht anders, verweist darauf, dass Essen seine Schienen-Infrastruktur deutlich besser ausgelastet bekomme als Mülheim. In Zahlen: In Essen wird jeder Kilometer Schiene gut 45.000 Mal im Jahr genutzt, in Mülheim nur etwas mehr als 27.500 Mal im Jahr.

Die Erhaltung der üppigen Infrastruktur, die zu wenig genutzt werde, sei zu teuer, plädieren Dönnebrink und Co. weiter für ein kleineres Schienennetz. Deshalb sei der Vorschlag zum „Netz 23“ mit Stilllegung der Linie 104 und 901 und Kappung der 102 in Broich „vernünftig“ gewesen. Verkehrsdezernent Vermeulen kritisiert die Politik: „Schlechtzureden, was wir vorhaben, ist so viel einfacher, als die Chancen darin zu sehen.“

Vermeulen will Fahrplan für ÖPNV-Planung im Herbst verabreden

Die Fachverwaltung wird sich mit dem Veto der Politik abfinden müssen. Vermeulen hofft, im Herbst im Mobilitätsausschuss mit der Politik auf einen Nenner kommen zu können, wie es mit der Nahverkehrsplanung vorangehen soll.