Mülheim. . Bei Siemens in Mülheim stehen die Zeichen auf Veränderung. Der Betriebsrats-Chef sieht in der Abspaltung vom Mutterkonzern auch eine Chance.
Die Siemens AG hat in dieser Woche bekannt gegeben, ihre Kraftwerkssparte abzuspalten und als verselbstständigtes Energie-Unternehmen an die Börse bringen zu wollen. Mit dem Betriebsratsratsvorsitzenden des Mülheimer Werkes, Jens Rotthäuser, sprach Redaktionsleiter Mirco Stodollick über die Bedeutung der Entscheidung für den Standort.
Viele Mitarbeiter im Werk hatten es schon befürchtet, jetzt ist die Entscheidung da: Siemens gliedert seine Energiesparte aus. Wie geht es Ihnen mit diesem Beschluss?
Jens Rotthäuser: Mir persönlich geht es derzeit gut damit. Natürlich war Priorität und Wunsch, dass wir mit unserer Sparte innerhalb der Siemens AG die Möglichkeit bekommen hätten, uns zu festigen, Geschäft aufzubauen, den Wandel zu vollziehen mit allen nötigen Investitionen und Innovationen. Das ist aber so nicht gekommen. Die Option der Eigenständigkeit ist unter den Umständen jetzt die beste Option, um unserer Geschäft selbst wieder auf den richtigen Weg zu bringen, ohne irgendwelche Lehmschichten innerhalb der Siemens AG mit ihren diversen Geschäftsbereichen, unter denen wir hätten ausbluten können.
Hoffen auf einen Mentalitätswechsel im Management
Wie glauben Sie auf einen richtigen Weg kommen zu können unter dem neuen Konstrukt?
Natürlich sind das im Moment Hoffnungen. Es ist klar, dass wir unsere Hausaufgaben haben. Das Marktumfeld ist, wie es ist. Wir haben nach wie vor die Themen Kosten, Auftragseingänge, Überkapazitäten. Ich erhoffe mir von der Eigenständigkeit, dass wir zukünftig einen Vorstand haben, der absoluten Fokus aufs Geschäft legt, dass sich Vertriebsstrukturen verfestigen und ausgebaut werden. Und ich hoffe, dass es auch innerhalb des Managements einen gewissen Wechsel im Mindset [Mentalität] gibt, um sich auf das künftige Geschäft, auf wachsende Märkte und Zukunftstechnologien auszurichten.
Die Befürchtungen der Belegschaft sind groß. Was ist zu vernehmen?
Es sind Gerüchte und Ängste verbreitet worden, klar. Ich glaube aber, dass wir mit der Informationsveranstaltung am Donnerstag den Mitarbeitern schon ein Bild zeichnen konnten, dass es neben den Risiken auch relativ große Chancen gibt. Aber Fragen treiben die Belegschaft um: zum Entgelt, zu den Vereinbarungen des Interessenausgleichs, zur Beschäftigungssicherung, zur Vereinbarung Radolfzell II, keine Standorte zu schließen und keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen. Auch da sind noch einige Hausaufgaben zu tun. Im Zuge des Übergangs in eine GmbH genießen wir sicher noch die Absicherung, aber auf dem Weg in eine neue AG wird vieles neu auf den Prüfstand kommen und neu verhandelt werden müssen. Gerade mit Blick auf soziale Standards.
„Ich hoffe, dass der Pioniergeist übrig bleibt“
Was bleibt von der Siemens-Familie übrig, wenn es zum Börsengang kommt?
Ich persönlich hoffe, dass der Pioniergeist übrig bleibt. Den werden wir brauchen, um bei Zukunftstechnologien voranzukommen. Ich denke, dass wir die Möglichkeit bekommen müssen, auch mal querdenken zu können. Auch hoffe ich, dass weiter auf soziale Standards und soziale Absicherung gesetzt wird, weil das ein Vorteil der Siemens AG ist, den wir über Jahrzehnte genossen haben. Für diese Standards wird sich die Belegschaft sicher stark machen.
Die Arbeitnehmer können ihren Slogan „Mensch vor Marge“ jetzt aber wohl endgültig einpacken, oder?
Den Slogan werden wir von unserer Seite auf gar keinen Fall einpacken. Der Slogan hat in seiner Bedeutung nach wir vor Recht. Innerhalb der Siemens AG mussten wir feststellen, dass wir mit den Margen-Vorstellungen keinen Fuß in die Tür kriegen. Wir haben uns bei vier, fünf Prozent eingependelt. Das ist weit weg von den Vorstellungen des Vorstandes. Mittelständler würden sich die Finger danach lecken. Nicht aber die Siemens AG. Ich glaube, dass wir jetzt mit der Eigenständig eine größere Möglichkeit haben, den Slogan in die Tat umzusetzen. Es wäre der größte Fehler, wenn sich die neue AG ebenfalls ein solch hohes Margenband setzt. Vielmehr können wir jetzt mit einer vernünftigen Marge sowohl Geschäft als auch Beschäftigung sichern.
Sorge, dass Wissen nach China abfließt
Ende März die Nachricht, dass Siemens eine Partnerschaft mit dem staatlichen chinesischen Konzern SPIC beim Kraftwerksbau eingeht, um den Chinesen in die Lage zu versetzen, bald selbst große Gasturbinen zu bauen. Jetzt die Entscheidung, mit einem herausgelösten Energiegeschäft an die Börse zu gehen. Was bedeutet das für den Standort Mülheim?
Die Sorgen und Ängste zur Zusammenarbeit mit SPIC hinsichtlich des Abflusses von Know-how sind nach wie vor da. Es gibt aber auch die Hoffnung, in den chinesischen Markt eintreten zu können.
Glauben Sie, dass der Siemens-Standort Mülheim die Arbeitsplätze in den nächsten fünf Jahren halten kann?
Ich sage: Ja. Weil ich absolut davon überzeugt bin. Wir werden als Interessenvertretung alles dafür tun und auf die Straße gehen, sollte uns da ein Strich durch die Rechnung gemacht werden. Wir wissen, welches Know-how und welche Fähigkeiten wir hier am Standort haben. Es ist eine unserer Forderungen, dass der Standort Mülheim bei der Neuausrichtung eine führende Rollen einnimmt. Beim Ausbau von Zukunftstechnologien, beim Aufbau neuer Geschäfte, etwa bei unseren neuen Schiffsantrieben.
„Es wäre fahrlässig, das Know-how nicht zu nutzen“
Im Interessenausgleich zum Abbau von 599 Stellen war auch vereinbart worden, Investitionen in Produkte der Energiewende zu tätigen. Glauben Sie, dass das Mülheimer Werk unter den neuen Voraussetzungen überhaupt noch die Chance eingeräumt bekommt, mehr ins Geschäft der Energiewende einzusteigen?
Ich glaube fest daran. Es wäre fahrlässig, das, was hier an Zukunftstechnologie, an Engineering, an Know-how vorhanden ist, nicht zu nutzen. Wir sind ein großer Standort mit vielen Vorteilen. Wir haben die Möglichkeit, Sachen einfach mal auszuprobieren. Wir haben hier im Ruhrgebiet, gerade auch mit dem Spitzencluster Industrielle Innovation, ein großes Pferd im Rennen. Wir erhoffen uns viel von dieser Plattform. Das Cluster ist gegründet und wird bald an den Start gehen. Wir brauchen Investitionen und Innovationen. Mülheim kann da der Standort sein, gerade auch im Zusammenspiel mit Politik.
Zuletzt vermeldete der Konzern Großaufträge zum Kraftwerksbau in Brasilien und aus dem Irak. Wie steht es aktuell um die Auslastung im Werk?
Nicht besser und nicht schlechter als für das Jahr prognostiziert. Da haben die Aufträge nichts dran geändert. Das Portfolio, das für Brasilien aufgerufen wurde, war größtenteils auf Halde. Für das Projekt im Irak ist noch nicht klar, ob sich in dem Strang letztlich eine große oder kleine Dampfturbine wiederfindet. Aber es hängt ein großes Modernisierungs- und Servicegeschäft an diesem Auftrag dran, von dem wir in der Fertigung und im Engineering nicht unbedingt betroffen sind. Siemens an sich und der Sparte tut der Auftrag natürlich gut, keine Frage.
Stellenabbau: 599 Mitarbeiter müssen gehen
Noch mal zum Stellenabbau: Die Angebote des Interessenausgleichs galten nur bis Ende April? Haben sich 599 Mitarbeiter gefunden, die das Werk freiwillig verlassen?
Ich bin mittlerweile optimistisch, dass wir das Ziel erreichen. Wir sind auf einem guten Weg. Ich habe auf der letzten Betriebsversammlung allen gedankt, die eine Maßnahme wahrnehmen. So perfide das ist: Es gehört zum Thema Standortsicherung, dass auch Menschen das Werk verlassen. So tun wir nur gut daran, wenn wir diese Zahl auch erreichen.