Essen/Mülheim. . Siemens will seine Kraftwerkssparte an die Börse bringen und aus dem Konzern herauslösen. 7100 Beschäftigte in Mülheim und Duisburg betroffen.
Die Siemens AG will ihre kriselnde Kraftwerkssparte ausgliedern und das gesamte Geschäft mit der Energiebranche bis September 2020 an die Börse bringen. Das beschloss der Aufsichtsrat des Münchner Technologiekonzerns am Dienstag einstimmig, wie das Unternehmen am Abend mitteilte.
Von dem radikalen Umbau sind im Ruhrgebiet die Siemens-Werke in Mülheim mit 4500 Beschäftigten und in Duisburg mit 2600 Mitarbeitern direkt betroffen. Nach Angaben der IG Metall wechseln bundesweit deutlich über 20.000 Beschäftigte an fast 20 Standorten in das neue Unternehmen. Insgesamt soll es über 80.000 Mitarbeiter haben und einen Umsatz von 30 Milliarden Euro einfahren. Den aktuellen Auftragsbestand beziffert Siemens-Chef Joe Kaeser auf 70 Milliarden Euro.
Siemens hält unter 50 Prozent an neuer Firma
An der eigenständigen Firma will Siemens nur eine Minderheitsbeteiligung von „etwas unter 50 Prozent“ halten. Dass sich der Anteil in Zukunft weiter reduziere, sei nicht ausgeschlossen, sagte ein Sprecher. Kaeser betonte am Abend, dass Siemens „eingangs ein starkes Zeichen“ in der neuen Firma setzen werde. „Das Unternehmen hat attraktive Chancen“, so Kaeser.
Nachdem der Mülheimer Betriebsratschef Jens Rotthäuser noch am Montag Bedenken gegen eine Ausgliederung geäußert hatte, stimmte der Gesamtbetriebsrat zu. „Wir haben erreicht, dass mit dem geplanten Börsengang in Deutschland die Mitbestimmung erhalten bleibt und Siemens sich damit auch zu den Arbeitsplätzen in Deutschland und Europa bekennt“, betonte Gesamtbetriebsratschefin Birgit Steinborn. Sie sitzt für IG Metall auch als stellvertretende Vorsitzende im Aufsichtsrat des Dax-Konzerns.
IG Metall hatte lange vor Abspaltung gewarnt
Die IG Metall hatte lange vor einer Abspaltung der Kraftwerkssparte gewarnt, nun geht sie diesen Schritt mit. Die Entscheidung sei „alles andere als einfach“ gewesen, betont Jürgen Kerner, Hauptkassierer der IG Metall und ebenfalls Siemens-Aufsichtsrat. Die Sparte gehöre immerhin „zu den Kernbereichen von Siemens, aber eine Wachstumsstrategie unter Siemens ist trotzdem nicht umsetzbar“. Nun entstehe ein Unternehmen, das „trotz mancher Unwägbarkeiten insgesamt die besseren Perspektiven für die Beschäftigten bietet“, meint Kerner.
Knut Giesler, NRW-Chef der IG Metall, zeigte sich am Abend optimistisch. „Diese Chancen müssen genutzt werden. Dann können die Standorte und Beschäftigten in NRW davon profitieren. Dafür braucht es aber auch endlich einen verlässlichen und realistischen politischen Rahmen für die Energiewende“, sagte er unserer Redaktion.
Mitbestimmung und Tarifbindung bleiben erhalten
Sie habe in den Verhandlungen mit dem Vorstand durchgesetzt, dass der Sitz des neuen Unternehmens in Deutschland und so Mitbestimmung und Tarifbindung erhalten bleibe. Ebenso die vereinbarte Standort- und Beschäftigungssicherung nach dem „Radolfzell“-Abkommen.
Dabei räumt die Gewerkschaft „unbestreitbare Risiken“ ein, vor allem Überkapazitäten, eine kaum vorhersehbare Marktentwicklung und ein daraus resultierender „anhaltender Druck zu Einsparungen“, wie es in einer ersten Reaktion aus Frankfurt heißt. Dafür betont die IG Metall, der Konzernvorstand habe die Zusage gegeben, dass der verbleibende industrielle Kern der Siemens AG insbesondere zur Entwicklung digitaler Lösungen für die Industrie und öffentliche Infrastruktur „ohne weitere Teilung“ erhalten bleibe, die AG somit nicht zu einer reinen Holding werde. Davon haben die nun betroffenen rund 20.000 Beschäftigten der Kraftwerkssparte allerdings keine Vorteile mehr, sie sollen den Mutterkonzern verlassen und künftig allein zurechtkommen.
Offenkundig hat die Sorge vor noch Schlimmerem die Gewerkschaft überzeugt, der Ausgliederung zuzustimmen. Denn bliebe die schon lange beim Vorstandschef Joe Kaeser ungeliebte Kraftwerkssparte im Konzern, „würden Investitionen weiter reduziert werden. Damit würde der Bereich sprichwörtlich verhungern“, sagte Steinborn.
Auch Gamesa kommt in die neue Firma
Kaeser fährt seit Jahren eine dezentrale Strategie, statt als Tanker solle Siemens als Flottenverbund mit vielen „Schnellbooten“ erfolgreich in die Zukunft steuern, hatte er 2017 als Losung ausgegeben. Und vor den Aktionären erklärt: „Konglomerate alten Zuschnitts haben keine Zukunft mehr.“ Und er machte ernst: Das Geschäft mit den erneuerbaren Energien hat Kaeser in der Tochter Gamesa ausgelagert, die nun in dem neuen Kraftwerksunternehmen aufgehen soll. Es soll die verbliebenen 59 Prozent von Siemens an Gamesa als Mitgift übertragen bekommen. Damit könnte Siemens beide Bereiche aus der eigenen Bilanz streichen.
Auch die Medizintechnik hatte Siemens in Healthlineers ausgegliedert. Die Verheiratung der Zugsparte Siemens Mobility mit dem französischen Alstom-Konzern war am Veto der EU-Kartellbehörden im vergangenen Jahr gescheitert. Bereits 2013 hatte sich Siemens von seiner Lampen-Tochter Osram getrennt. Dem Börsengang folgten seinerzeit massive Stellenstreichungen.