Mülheim. . Betriebsratschef Bazzoli wechselt von Siemens zur IG Metall. Für das Mülheimer Werk sieht er neue Chancen. Trotzdem fallen 600 Stellen weg.
Als Pietro Bazzoli vor knapp 21 Jahren Betriebsratsvorsitzender bei Siemens in Mülheim wurde, plante die Konzernspitze, die Belegschaft im Dampfturbinen- und Generatorenwerk auf unter 3000 abzuschmelzen. Wenn der 49-Jährige am Freitag seinen neuen Job bei der IG Metall antritt, verabschieden sich von ihm rund 4500 Mitarbeiter. Das ist auch sein Verdienst. „Uns ist es gelungen, in die Mannschaft zu investieren“, sagt Bazzoli zum Abschied.
Mülheim gehört zu den größten produzierenden Werken im gesamten Siemens-Konzern. Wie kaum ein anderes bekommt es aber auch die Schwankungen in der globalen Energiewirtschaft zu spüren: den Aufstieg der Atomkraft und deren Ende, den Boom in den USA und jetzt das nahende Aus für Braun- und Steinkohle.
599 Stellen sollen in Mülheim wegfallen
Aktuell vollzieht sich in den Fertigungs- und Bürogebäuden am Mülheimer Hafen der nächste Umbruch: Wegen der Auftragsflaute im Kraftwerksbau will Siemens an der Ruhr 599 Stellen bis zum Jahr 2023 abbauen. Parallel wurde die Fertigung von kleinen Turbinen und Generatoren für die Industrie von Essen nach Mülheim verlagert. Die neue Halle, in der die 500 umgezogenen Beschäftigten arbeiten, wurde vor wenigen Tagen eingeweiht.
„Wir sind der Puls der fossilen Energiewirtschaft“, sagt Bazzoli. Der scheidende Betriebsratsvorsitzende, der 34 seiner 49 Lebensjahre bei Siemens verbrachte und nun Geschäftsführer der IG Metall in Bocholt wird, ist davon überzeugt, dass Siemens und die Branche mit dem Fahrplan zum Ausstieg aus der Kohle nun mehr Planungssicherheit hätten. „Das ist gut für unser Service- und Modernisierungsgeschäft“, sagt der Gewerkschafter.
Weltweit 600 Kohlekraftwerke in der Planung
Denn Siemens in Mülheim baut nicht nur schlüsselfertige Kraftwerke. Ein großes Standbein ist auch die Wartung und Ertüchtigung von Turbinen und Generatoren. Und Bazzoli erinnert daran, dass abseits der Energiewende in Deutschland aktuell bis zu 600 Kohlekraftwerke in der Planung seien – vor allem in Indien und China. Davon könne auch Siemens profitieren.
Die Zahlen, die der Konzern am Mittwoch für das Quartal Oktober bis Dezember 2018 vorlegte, geben dem Betriebsrat recht: Über Serviceverträge konnte Siemens den Auftragseingang in der Kraftwerkssparte um satte 15 Prozent auf mehr als 3,5 Milliarden Euro steigern. Das bereinigte Ergebnis ging jedoch um 50 Prozent auf 119 Millionen Euro zurück. Auch die Umsätze lagen mit 2,85 Milliarden Euro fast zehn Prozent unter dem Vorjahresniveau. Siemens-Chef Joe Kaeser machte dafür einmal mehr die weltweiten Überkapazitäten von großen Turbinen, die sein Konzern in Mülheim baut, sowie die Energiewende verantwortlich.
Zukunft gehört der Speicherung von Strom
Um sich aus der Abhängigkeit großer Dampfturbinen zu befreien, macht sich der Betriebsrat seit Jahren dafür stark, dass Siemens in Mülheim in das Geschäft mit der Speicherung von Strom aus Sonne und Wind einsteigt. Inzwischen nimmt das „Spitzencluster“ konkrete Formen an. Land NRW und Siemens geben jeweils mehr als 200.000 Euro für eine Machbarkeitsstudie aus. Sie soll die technischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine lokale CO2-freie Energieerzeugung untersuchen.
Geplant sind Pilotanlagen etwa an Universitäten, die sich mit Strom aus Photovoltaik- und Windkraftanlagen versorgen. Überschüssiger Ökostrom soll einen Elektrolyseur betreiben, der reinen Wasserstoff herstellt. Der Wasserstoff wird gespeichert und soll bei Bedarf eine Gasturbine zur Stromproduktion antreiben. Ergebnisse der Machbarkeitsstudie sollen im Sommer vorliegen.
Bei Siemens „redet man nicht miteinander“
„Stromspeicherung und Netzstabilität sind die großen Herausforderungen dieser Zeit“, sagt Bazzoli. Er ist froh, dass Siemens in Mülheim endlich in diese Richtung bewegt, glaubt aber auch, dass im Konzern mehr gehen könnte. „Siemens hat die Kompetenzen in der Windenergie, bei fossilen Trägern und in der Stromübertragung. Wenn man sie zusammen bringt, sind gute Lösungen für die Zukunft möglich.“ Der Betriebsrat beklagt aber den „Trend zur Verselbstständigung der Unternehmensbereiche“. Bazzoli: „Es gibt zum Teil konkurrierende Ziele und deshalb redet man nicht miteinander. Das Ganzheitliche im Konzern geht verloren.“ Er beobachte den Trend, dass Siemens lieber junge Firmen mit bestimmten Fähigkeiten aufkaufe. als selbst neue Technologien zu entwickeln.
Dennoch sie Bazzoli gute Zukunftsperspektiven für das Mülheimer Werk: „Solange Mitarbeiter den Freiraum haben, innovativ zu sein, ist mir nicht bange.“