Herne. . Maria Kösters aus Herne kam nach einem falschen Geständnis ins Konzentrationslager Ravensbrück. Dort litt das Waisenkind an Kälte und Hunger, wurde von Nazis schikaniert und verprügelt. Weihnachten 1943 erlebte sie in der Hölle ihr „schönstes Erlebnis“.

Weihnachten 1943, vor genau 70 Jahren, gab es für Maria Kösters Milchsuppe mit Haferflocken. „So schnell habe ich noch nie Suppe gegessen“, erinnert sie sich. Und: „Das war mein schönstes Erlebnis“. Gemeint ist: ihr „schönstes Erlebnis“ im Konzentrationslager Ravensbrück. Der Hölle ihrer Jugend.

Maria Kösters, 86, sitzt auf dem Wohnzimmerstuhl in ihrer Herner Altenwohnung. Sie ist fast blind, kann sich ohne Rollator kaum bewegen, hat einen Alarmknopf für den Hausnotruf am Handgelenk. Es fällt ihr schwer zurückzuschauen, sich zu erinnern an Hunger, Brutalität und Demütigungen. Die Folgen spürt sie bis heute: „Das KZ hat mein Leben zerstört.“

„Das KZ hat mein Leben zerstört.“

Es war ein „Geständnis“, im September 1941 von ihr unterzeichnet, das zwei jungen Menschen den Tod brachte und sie ins KZ. 14 Jahre alt war Maria damals, ein Waisenmädchen auf einem Bauernhof im westfälischen Asbeck. Mutter und Vater waren vor Kriegsausbruch gestorben, sie an Krebs, er bei einem Unfall. Ein Bruder und dessen Frau übernahmen den elterlichen Kotten, als der Bruder an die Front musste, war Maria für die jungen Geschwister zuständig und half auf dem Hof. Ein Zwangsarbeiter wurde zur Unterstützung geschickt.

Mit ihm, einem 26-jährigen Polen, habe sie an einem Sommerabend „im Bett gelegen und auch geschlechtlich verkehrt“, heißt es in einem Vernehmungsprotokoll der Gestapo. Sie hätten sich geküsst, dann sei es ins Schlafzimmer gegangen. Dort habe ihr Florian Sp. den Schlüpfer ausgezogen, dreimal hätten sie Sex gehabt. Auch an den folgenden Tagen, einmal auf freiem Feld. Nichts von dem, was sie damals unterschrieben hat, sei wahr. Der Gestapo-Mann, der sie vernahm, „hat mich so lange geschlagen, bis ich unterschrieben habe“, erzählt sie stockend, mit Tränen in den Augen.

© WAZ FotoPool

Niemand mehr an ihrer Seite

Das bestätigt die Historikerin Gisela Schwarze aus Münster, die Schicksale von Mädchen und Jugendlichen in der NS-Zeit akribisch recherchiert und dokumentiert hat. Tausende Frauen kamen demnach wegen angeblicher oder tatsächlicher Affären mit Zwangsarbeitern in Haft. Darunter auch Maria Kösters. Die Schilderungen in dem Protokoll, so die Historikerin, stammen aus „der dreckigen Fantasie eines Gestapo-Mannes“. Maria, demnach sexuell völlig unerfahren, sei ein willkommenes Opfer gewesen: elternlos, Kottenbewohnerin, obrigkeitshörig, naiv. Durch ihr „skrupelloses Vorgehen“ gegen Maria, so Schwarze, hätten sich die Verantwortlichen in der Dortmunder Gestapo-Zentrale Ansehen von „ganz oben“ verschafft.

Nach Stationen in Erziehungsheimen kam Maria Kösters ins „Jugendschutzlager Uckermark“, das angegliedert war ans Konzentrationslager Ravensbrück. Was sie dort erlebte, will die betagte Frau nicht noch einmal schildern müssen. Nur so viel: „Ich wurde entwürdigt, war wehrlos.“ Die Folgen spüre sie bis heute: „Immer und immer wieder sehe ich Dinge aus dem KZ, auch nachts, da werde ich von meinen eigenen Schreien wach.“ An ihrer Seite ist dann niemand mehr: Ihr Mann, den sie nach dem Krieg im Münsterland kennen lernte, mit dem sie 1948 nach Herne ging, als er Arbeit fand in der Schraubenfabrik Dorn, starb 1993.

Lageralltag geprägt von Kälte, Hunger und Brutalität

Maria Kösters, berichtet die Historikerin Schwarze, kam Anfang 1943 ins KZ, erhielt die Häftlingsnummer 290. Als „Bettpolitische“ sei die Jugendliche in der Lagerhierarchie ganz unten gewesen, galt als „asozial“, „minderwertig“, „ehrlos“. Der Lageralltag sei geprägt gewesen von Kälte, Hunger, Arbeit, Schikanen und Brutalität. Nachts fror Maria in den Baracken, morgens musste sie sommers wie winters in Unterwäsche barfuß zum Appell, dann ging es in den „Steinbruch“, wo die Jugendlichen Steine aus dem Sand graben musste. Zum Essen gab es dünne Kohlsuppe, Gespräche waren verboten. Von den Wärterinnen wurde sie getreten, geschlagen, verprügelt, jeden Abend musste sie die Hose runterziehen zur „Schlüpferkontrolle“.

Gisela Schwarze, Historikerin aus Münster, recherchierte das Leiden von Maria Kösters im KZ Ravensbrück.
Gisela Schwarze, Historikerin aus Münster, recherchierte das Leiden von Maria Kösters im KZ Ravensbrück. © WAZ FotoPool

Maria Kösters hat die Tortour überlebt. Sie landete nicht tot im Elektrozaun, wurde nicht von den Bluthunden der SS zerfetzt, nicht von Ruhr oder Krätze dahingerafft. Auch diese Schilderungen gibt es in dem Buch der Historikerin.

Polen wurden gehängt

Glücklich ist die 86-jährige aus Asbeck aber nie geworden. Nicht in ihrem Heimatdorf und nicht in Herne. Ihren Kindern hat sie spät, erst vor einigen Jahren, von ihrer KZ-Zeit erzählt und auch davon, wie sie nach dem Krieg im Münsterland, nach ihrer Rückkehr aus dem Lager, weiter geächtet wurde. Die Eliten aus der NS-Zeit seien auch in diesem Ort die alten geblieben, erklärt Schwarze. Der Pole, mit dem sie ein Verhängnis gehabt haben soll, das erfuhr Maria Kösters bei ihrer Rückkehr in die Heimat nach dem Zweiten Weltkrieg, war noch im Krieg bei Asbeck gehängt worden – ebenso ein weiterer Zwangsarbeiter aus Polen, der ein Verhältnis mit ihrer Freundin gehabt haben soll.

„Es war wie Hexenjagd“

Die Historikerin Gisela Schwarze hat für ihrer Recherchen über die Verfolgung von Frauen im Zweiten Weltkrieg Akten der Sondergerichte in Dortmund, Bielefeld und Kiel gesichtet.

Für die Bürgermeisterin von Asbeck hat die 82-Jährige die Geschichte von Maria Köster und der polnischen Zwangsarbeiter im Ort aufgearbeitet.

Ihr Buch trägt den Titel „Es war wie Hexenjagd“, Ardey-Verlag, Münster; 224 Seiten, 19,90 Euro.

„Die Traumata sind lebensbegleitend“, sagt die 82-jährige Schwarze, die sich im Zuge ihrer Recherchen mit Kösters angefreundet hat und beim Gespräch mit der WAZ am Tisch sitzt. Mehr noch: „Sie kommen gerade im Alter hoch.“ Hinzu kommt, dass Kösters noch Drohanrufe erhält. Von Rechtsradikalen werde sie verhöhnt und verspottet. Deshalb soll nur ihr Mädchenname zu lesen sein, ein aktuelles Bild nicht erscheinen.

Heiligabend allein

Heiligabend verbringt sie allein. Die Kinder hätten sich abgewandt, erzählt sie, das sei eine schwierige Beziehung, eine andere Geschichte. Was sie abends esse, 70 Jahre, nachdem ihr die Lagerleiterin in nie da gewesener Zuwendung Milchsuppe mit Hafenflocken vorsetzte? Sie weiß es noch nicht. „Ich lass’ mir ein Fertiggericht vom Supermarkt holen“, sagt die Frau. „Am Herd stehen kann ich ja nicht mehr.“