Herne. In Herne droht eine Verschärfung des Wohnungsmangels. Die Zahl der Neubauten geht zurück. Experten erklären, warum die Flaute anhalten wird.
Es ist seit Jahren der gleiche Mechanismus: Kaum hat die Herner WAZ über Wohnungsneubauprojekte in der Stadt berichtet, werden die betreffenden Unternehmen mit Anfragen von Interessenten überhäuft. Die Zahl der Nachfragen liegt in aller Regel im dreistelligen Bereich - obwohl nicht mal Grundrisse, geschweige denn Quadratmeterpreise feststehen. Das offenbart: Der Mangel an Wohnungen in Herne - aber auch im gesamten Ruhrgebiet - ist riesig. Aussicht auf Besserung? Keine. Es droht vielmehr eine Verschärfung.
Die Wohnungswirtschaft in Herne - Genossenschaften und die Stadttochter HGW - hat in den zurückliegenden Jahren für reichlich neuen und frischen Wohnraum gesorgt, einige Beispiele: Lohhofbogen (HGW), Augustastraße (Wohnungsverein), Albert-Schweitzer-Carrée (Gemeinnützige), Westbach (Wohnungsgenossenschaft Herne-Süd) oder das Widumer Quartier (Ketteler). Hinzu kamen Projekte von anderen Bauherren wie der Wohnpark Hermann-Löns oder auch der Umbau der ehemaligen Heitkampzentrale. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Nur noch 98 Genehmigungen für Wohnungsbau in Herne im vergangenen Jahr
Doch der Schwung ist längst deutlich erlahmt, das spiegelt sich auch in der Zahl der Baugenehmigungen wider: Genehmigte die Stadt 2021 noch den Bau von 287 Wohneinheiten, waren es 2022 nur noch 167, im vergangenen Jahr sackte die Zahl auf nur noch 96. Für das laufende Jahr hat die Stadt noch keine Zahlen mitgeteilt. Nach den Daten des Landesstatistikportals IT.NRW ist Herne bei der Zahl der Baugenehmigungen in 2023 das landesweite Schlusslicht gewesen: Nur sechs Wohnungen je 10.000 Einwohner seien genehmigt worden.
Die Gründe für diesen Einbruch kann Martin Schade bestens erläutern: Der Herner ist Anwalt für Architekturrecht und wickelt mit seiner Kanzlei für die Herner Wohnungsgenossenschaften und die HGW das juristische Baumanagement ab. Ein ganzes Bündel an Einflüssen habe zum Abwürgen der Wohnungsbaukonjunktur geführt. Im Zuge der rasanten Inflation seien auch die Kreditzinsen deutlich gestiegen. Außerdem seien die Materialkosten in die Höhe geschossen. Erst seien die Preise für Dämmstoffe drastisch gestiegen, dann seien die Preise für andere Materialien nachgezogen. Auch die Kosten für Handwerker sind in die Höhe gegangen - wenn man denn einen bekommen hat. Erschwerend sei der plötzliche Stopp von Förderprogrammen für energieeffizientes Bauen hinzugekommen. Das hat auch in Herne zwei Projekte getroffen: den Neubau der Kita Weustenbusch, den die HGW stemmen sollte, und den Fortuna-Park der WHS an der Nordstraße. In beiden Fällen hatte die Fördersumme einen nicht unerheblichen Teil der Kostenkalkulation ausgemacht. Hinzu sei ein erheblicher Aufwand für die Antragstellung hinzugekommen. Zwar gebe es wieder eine Förderlandschaft, aber bei den Unternehmen fehle das Vertrauen - keine gute Motivation für Neubauprojekte.
Von der ersten Planung bis zur Bezugsfertigkeit vergehen drei Jahre
Blickt Schade auf die kommenden Jahre, sieht er ein gravierendes Problem auf die Stadt zukommen: Zahlreiche Unternehmen hätten ihre Planungen für Neubauprojekte auf Eis gelegt. Und selbst wenn sie jetzt mit Planungen begännen - wofür es derzeit keine Anzeichen gibt -, entstehe eine erhebliche zeitliche Lücke, bis Bewohner ihre Möbel in die neuen Räume stellen könnten. Schade rechnet vor: Zunächst müssten die eigenen Planungen vorgenommen werden, dann müsse der Bauantrag gestellt werden. Bis zur Genehmigung könnten mehrere Monate vergehen. Die reine Bauzeit betrage in aller Regel deutlich mehr als ein Jahr. Zwischen Beginn der Planung und Bezugsfertigkeit können drei Jahre liegen. Das heißt: Würde ein Projekt noch in diesem Jahr auf die Reise gebracht, wäre es erst Ende 2027 beendet. Deshalb plädiert Schade dafür, trotz aller Probleme Baurecht für Projekte zu schaffen, um die Lücke nicht noch größer werden zu lassen.
Diese dreijährige Lücke würde die Krise noch verschärfen. Bei den Herner Wohnungsunternehmen sei quasi keine einzige Wohnung mehr frei, „es gibt sogar Bewerbungen auf Wohnungen, die noch belegt sind“, so Schade.
Auch wenn die Preise inzwischen wieder gesunken sind: „Neubau macht noch keinen Spaß“, so Sonja Pauli, Vorstandsvorsitzende des Wohnungsvereins. Auch sie beklagt die fehlende Planungssicherheit angesichts der politischen Vorgaben. Und vielleicht ändern die sich ja schon wieder nach der nächsten Bundestagswahl. Das würde bedeuten, dass neue Planungen nicht vor Ende 2025 starten.
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Pauli macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam: Da es die politische Vorgabe gebe, Häuser bis 2045 CO2-neutral zu machen, liege zurzeit auch ein großer Fokus auf den Altbeständen. Dieser Prozess sei auch mit hohen Kosten verbunden, der Wohnungsverein hat gerade erst einen sechsstelligen Betrag für den hydraulischen Abgleich in die Hand genommen.
Nicht anders klingen Simone Hitzler und Marco Volkar, die Vorstände der Wohnungsgenossenschaft Herne-Süd. Die Nachfrage nach Wohnraum sei enorm. Am Westbach entstehen 116 Einheiten, die Zahl der Anfragen? Fast 1000! Die WHS ist an der Nordstraße Opfer des plötzlich gestrichenen Förderprogramms geworden. Zwar habe die WHS den Bauantrag inzwischen eingereicht, doch die Kalkulation gehe nur auf, weil man Abstriche bei der Ausstattung gemacht habe. Auch Hitzler und Volkar sagen, dass sie sich angesichts des Klimaziels auf den Bestand konzentrieren. Das Thema Fördermittel sehen sie kritisch. Angesichts der hohen Anforderungen an Neubauten könne es passieren, dass die Höhe zusätzlichen Baukosten die Höhe der Fördermittel übersteige.
Bundesweiter Abwärtstrend bei der Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen
Ein Gutachten des Landes zum Neubaubedarf in NRW bis zum Jahr 2040 ist vor einiger Zeit zu dem Ergebnis gekommen, dass es in Herne einen jährlichen Neubaubedarf von 280 bis 320 Wohneinheiten gibt - also weit mehr als die Zahl der Baugenehmigungen der vergangenen Jahre. Doch der Abwärtstrend bei den Genehmigungen für Wohnungsbau ist - bundesweit - immer noch nicht gestoppt. Im ersten Quartal 2024 registrierte das Bundesamt für Statistik ein Minus von 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.