Herne. Die preisgekrönte Lyrikerin Lina Atfah ist bei einer Lesung in Essen gefeiert worden. In ihrer Heimat Herne findet sie bislang weniger Beachtung.

Mit Lina Atfah hat am 14. September erstmals ein Mensch aus Herne den Literaturpreis Ruhr gewonnen. Einen Monat nach dieser besonderen Auszeichnung wurde sie bei einer Lesung für ihre Dichtkunst gefeiert. Allerdings nicht in ihrer Heimatstadt – hier ist sie seit ihrer Flucht 2014 aus Syrien noch nie aufgetreten –, sondern auf Einladung des Maschinenhauses Essen.

In der imposanten Halle der Kultureinrichtung an der Altenessener Zeche Carl – zum Leitungsteam gehört auch der Herner Till Beckmann – trugen die Wanne-Eickelerin und der Berliner Dichter Jan Wagner aus ihren Werken vor und gaben Einblicke in ihre Schreibprozesse.

Lina Atfah (Mitte) und Jan Wagner lasen in der Maschinenhalle Essen aus ihren Gedichten und sprachen über den Entstehungsprozess. Katharina Rösch, Dramaturgin am Schauspiel Essen, moderierte den Abend.
Lina Atfah (Mitte) und Jan Wagner lasen in der Maschinenhalle Essen aus ihren Gedichten und sprachen über den Entstehungsprozess. Katharina Rösch, Dramaturgin am Schauspiel Essen, moderierte den Abend. © Kerstin Gersch

Lina Atfah präsentierte ihre Gedichte auf Arabisch, Beate Scherzer von der Essener Buchhandlung Proust las die deutsche Übersetzung. Doch allein durch den Vortrag ihrer Verse verzauberte die (mit Mann und den im April geborenen Zwillingen angereiste) 34-Jährige das Publikum in der voll besetzten Maschinenhalle. Jan Wagner formulierte es so: „Wenn Lina Atfah ihre Gedichte auf Arabisch rezitiert, ist für Ohren, die kein Arabisch verstehen, trotzdem ein Klangwunder zu hören“ - mit „schwingendem Rhythmus“ und „unwiderstehlichen Melodien“.

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Die Lyrik stand dem in nichts nach: Ihre gefühls- und inhaltsstarken Verse kreisten um Themen wie Flucht und Verzweiflung, aber auch Schönheit und Heimat. So zu hören in einer gedichteten Liebeserklärung an Wanne-Eickel, das laut Atfah so „romantisch und hässlich“ sei wie ihre syrische Heimatstadt Salamiyah. Ebenso beeindruckend: In dem Pandemie-Gedicht „2020“ „grüßte“ sie von der Couch aus Kafkas Verwandlung und „rief ihm zu, ich sei inzwischen eine Pflanze geworden“. Und im feministischen Poem „Entschuldigung“ entfachte sie mit einer Anklage gegen einen untreuen Dichter einen regelrechten Furor.

Jan Wagner (51), Träger des Georg-Büchner-Preises und für die Süddeutsche Zeitung der „beste Lyriker seiner Generation“, konnte ebenfalls gefallen – mit ebenso originellen wie geistreichen Gedichten über in Würde gealterte Motorradfahrer oder das wuchernde Unkraut Giersch („mit dem Begehren schon im Namen“). Exklusiv fürs Essener Publikum gab es Kostproben aus seinem erst in Kürze im Hanser Verlag erscheinenden Band „Steine & Erden“.

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Kennengelernt hatten sich Wagner und Atfah 2016 in der Übersetzungswerkstatt des Künstlerhauses Edenkoben (Pfalz). In Essen hob Wagner hervor, dass die Übersetzung von Gedichten in eine andere Sprache ein großer Gewinn sein könne. In Lina Atfahs Buch „Grabtuch aus Schmetterlingen“ ist dies offenbar gelungen - war der von ihrem Mann Osman Yousufi und der Lyrikerin Brigitte Oleschinski ins Deutsche übertragene bzw. nachgedichtete Band doch in diesem Jahr für den Preis der Leipiziger Buchmesse nominiert.

„Grabtuch aus Schmetterlingen“ heißt der aktuelle und inzwischen preisgekrönte Lyrik-Band der Wanne-Eickelerin Lina Atfah.
„Grabtuch aus Schmetterlingen“ heißt der aktuelle und inzwischen preisgekrönte Lyrik-Band der Wanne-Eickelerin Lina Atfah. © FUNKE Foto Services | Walter Fischer

In Kürze wird Lina Atfah in Stadtbibliothek Recklinghausen (ausschließlich für Frauen) lesen. Im Maschinenhaus gab es zudem erste Gespräche über ein Projekt im Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel. In Herne gilt dagegen zurzeit: Nicht nur der Prophet, sondern auch die Poetin gilt nichts im eigenen Land. Heißt: Lesungen sind derzeit (noch) nicht in Sicht.

Lina Atfahs Bücher „Grabtuch aus Schmetterlingen“ und „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ sind im Pendragon Verlag erschienen. Ihr Gedicht über Wanne-Eickel findet sich in der Anthologie „Wie weiter? 25 literarische Aussichten zum Ruhrgebiet“ (Eichborn-Verlag).