Herne. Kann die Stadt Herne wirklich Geld aus zu Unrecht erhobenen Bußgeldern einfach behalten? Es deutet sich eine Lösung an, die nicht einfach ist.
Nachdem die Stadt Herne mehr als 100 vermeintliche Temposünder unberechtigt zur Kasse gebeten hat, wächst der Druck auf die Stadt, das Geld auch zurückzuzahlen. Auch die Löschung der zu Unrecht verhängten Punkte in Flensburg sei möglich, erklärt das Kraftfahrtbundesamt auf Nachfrage. Die Stadt müsse das aber aktiv anstoßen. Die Stadt rät jetzt zu sogenannten Gnadenverfahren.
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Riesiges Medieninteresse an kuriosem Fall aus Herne
Der Fall löst nach dem WAZ-Bericht bundesweit Reaktionen aus. Mehrere große Fernsehproduktionen wollen den Fall in den nächsten Wochen als besonders krasses Beispiel für Behördenwillkür zum Thema machen: In zahlreichen Leserzuschriften wird das Verhalten der Stadt als „beschämend“ bezeichnet. Der Herner Anwalt und Vorsitzende der Verkehrswacht Heinrich Hendricks hatte die Bescheide nach seiner Rechtsauffassung für rechtswidrig erklärt. Auch andere Juristen teilen die Auffassung. Bislang weigert sich die Stadt allerdings trotz des klaren Fehlers das Geld zurückzuzahlen.
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Zur Erinnerung: Die Polizei war am 15. Juni 2022 auf ein von Unbekannten aufgehängtes Tempo-30-Schild hereingefallen und hatte dort geblitzt, obwohl an der Wiedehopfstraße eigentlich Tempo 50 erlaubt ist. 104 vermeintliche Raserinnen und Raser mussten eine Strafe zahlen, darunter gab es 31 Bußgeldverfahren, die mit Punkten in Flensburg verbunden sind. Sechs Betroffene sollten ihren Führerschein abgeben. Der Herner Jörg Hochstrat war erfolgreich gegen Bußgeld und Führerscheinentzug vorgegangen.
Stadt Herne: Betroffene können Gnadenverfahren beantragen
„Die Stadt Herne sieht im Rahmen ihrer rechtlichen Verantwortung keine Möglichkeit, die Verfahren zurückzunehmen“, erklärt Stadtsprecher Christoph Hüsken auf erneute Nachfrage. „Allerdings besteht die grundsätzliche Möglichkeit des Gnadenverfahrens auf Antrag zur Entscheidung der Bezirksregierung in den Fällen, in denen eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht möglich ist. Diese Gnadenverfahren wären von den Personen anzustoßen, die einen Bußgeldbescheid erhalten haben.“ Wie viele der Betroffenen überhaupt von dem Hintergrund wissen, bleibt offen.
Die Stadt hat auf WAZ-Nachfrage mittlerweile die genaue Summe der Bußgelder ermittelt: „Nach erneuter Überprüfung haben die Bußgelder eine Gesamthöhe von 18.045 Euro. Das entspricht 144 Verfahren“, sagt Hüsken. Dass jetzt neben der Rückzahlung auch noch ein Vielfaches an Prozesskosten auf die Stadt zukommen könnte, sieht Hüsken nicht: Die Rechtsgrundlage sei – anders als von verschiedenen Juristen eingeschätzt – nicht das Verwaltungsverfahrensgesetz, sondern das Ordnungswidrigkeitengesetz. „Ein verwaltungsrechtliches Prozessrisiko wird schon deshalb nicht gesehen.“
Kraftfahrtbundesamt: Stadt kann Punkte löschen lassen
Neben den Bußgeldern drohten auch Fahrverbote und Punkte. Bleiben diese jetzt auch auf dem Flensburger Konto? Das Kraftfahrtbundesamt sieht auf WAZ-Nachfrage die Stadt Herne in der Pflicht. Eine Löschung von Punkten sei auch jetzt noch möglich, heißt es, selbst wenn sie auf einem rechtskräftigen Bescheid beruhen: „Die Löschung eines eingetragenen rechtskräftigen Bußgeldbescheids im Fahreignungsregister kann jedoch ausschließlich nach einer entsprechenden Löschungsmitteilung ebenfalls durch die nach Landesrecht zuständigen Behörde vorgenommen werden“, erklärt Sprecher Stephan Immen.
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Dafür sei dann aber eben nicht das Kraftfahrtbundesamt zuständig, sondern die Stadt Herne. Immen: „Eine Klärung ist daher in jedem Fall zunächst im Benehmen mit der zuständigen Bußgeldbehörde – hier Stadt Herne – herbeizuführen.“
„In den vier Fällen, in denen Fahrverbote ausgesprochen wurden, hat die Stadt Herne selbst die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 85 Ordnungswidrigkeitengesetz beim Amtsgericht beantragt“, sagt Christoph Hüsken. „Diese Fälle werden - wie der bekannte Fall - vermutlich zu Gunsten der Betroffenen entschieden.“ Weitere Eintragungen beim Kraftfahrtbundesamt könnten aber nicht ohne ordnungsgemäßes Verfahren zurückgenommen werden – heißt es von der Stadt.
Erfolgreicher Kläger Jörg Hochstrat: Stadt wusste längst Bescheid
Der erfolgreiche Kläger Jörg Hochstrat treibt die Argumentation die Zornesröte ins Gesicht: „Für mich ist es erschreckend, wie hier mit den Bürgern umgegangen wird und wie die Stadt Herne versucht, sich mit Einspruchsfristen aus der Verantwortung zu ziehen.“
Hochstrat erinnert daran, dass der Stadt nachweislich bereits am 7. Juli Hinweise darauf vorlagen, dass die Tempo-30-Schilder ohne Grundlage aufgestellt wurden. Am 14. Juli 2022 sei festgestellt worden, dass die Schilder falsch sind. Am selben Tag wurden aber Bußgeldbescheide verschickt. Die Dokumentation entsprechender Schreiben liegt der Redaktion vor. Die Stadt streitet das ab: „Die Zuständigkeit für die Beschilderung an dieser Stelle lag bei StraßenNRW. Daher lag die Kenntnis über die fehlende Rechtsgrundlage der Anordnung von Tempo im Juli 2022 der Bußgeldstelle nicht vor.“
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Jörg Hochstrat lässt kein gutes Haar mehr an den Verantwortlichen: „Festzustellen ist, dass nicht der Fehler beim Bürger liegt, der seine Einspruchsfristen nicht geltend gemacht hat, sondern bei der Polizei und bei der Stadt Herne, die ihrer Prüfpflicht der geltenden Geschwindigkeitsbegrenzung nicht nachgekommen sind und auf falschen Tatsachen beruhend Bußgeldbescheide herausgeschickt hat.“