Herne. Die Zahl rechter Straftaten und Gewaltdelikte ist in Herne stark gestiegen. Warum das zu unterschiedlichen Bewertungen führt.

Die Zahl der erfassten Straftaten und Gewaltdelikte mit rechtem Hintergrund ist in Herne 2022 deutlich angestiegen. Im jüngst von Innenminister Herbert Reul vorgelegten neuen Verfassungsschutzbericht des Landes NRW taucht Herne – anders als in früheren Jahren – allerdings nicht mehr auf. Wie die Zahlen und die Entwicklung zu bewerten sind.

Die Zahlen

Der Zuwachs ist enorm: Die Summe der von der Polizei erfassten politisch motivierten Straftaten ist 2022 in Herne im Vergleich zu 2021 von 37 auf 52 gestiegen (plus 40,5 Prozentpunkte). Die Dunkelziffer der nicht angezeigten bzw. registrierten Straftaten dürfte in diesem Bereich - wie in vielen anderen Polizeistatistiken auch - hoch sein. Die Polizei relativiert das deutliche Plus mit dem Hinweis, dass im vergangenen Jahr wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht worden sei. Das ist formal korrekt, denn: 2022 lag die Zahl trotz des Anstiegs leicht unter den von 2015 bis 2020 ermittelten Werten (siehe Grafik).

Mit 35 von 52 erfassten Straftaten hatte der Großteil der politisch motivierten Delikte - wie üblich - einen rechten/rechtsextremistischen Hintergrund. Neben vier Gewaltdelikten (siehe unten) tauchen in der Statistik die „Klassiker“ auf: Zeigen verfassungswidriger Symbole (22 Fälle), Beleidigung (6) und Volksverhetzung (3). Fazit der Polizei: „Weiter gilt unverändert, dass es weder Kleingruppen noch Einzelpersonen gelungen ist, in Herne eine organisierte oder in Ansätzen strukturierte, rechtsmotivierte Szene zu etablieren.“

Die Gewaltdelikte

Alarmierend ist allerdings: Fünf politisch motivierte Gewalttaten meldete der polizeiliche Staatsschutz für 2022 – so viele gab es zuletzt vor acht Jahren (siehe auch Grafik). Was ebenfalls zu denken gibt: Diese Herner Entwicklung liegt nicht im Landestrend; die Zahl der Gewaltdelikte ist in NRW seit 2018 permanent rückläufig.

Wie berichtet, gingen den vier „rechtsmotivierten Körperverletzungen“ in Herne nach Angaben der Polizei fremdenfeindliche Beleidigungen durch die Beschuldigten voraus. In drei Fällen erlitten die Opfer leichte Verletzungen, in einem Fall wurde der Geschädigte angespuckt, blieb aber unverletzt. Bei dem nicht aufgeklärten Fall - er wurde statistisch in die Rubrik „Sonstige“ eingeordnet – ging es um einen 22-Jährigen, der am 18. Juni am Rande des Christopher Street Days in Herne aufgrund seiner sexuellen Orientierung angegriffen worden ist. Der Marler habe am Bahnhof Herne auf Nachfrage einer Gruppe Jugendlicher erklärt, dass er bisexuell sei, sagt Polizeisprecher Jens Artschwager. Daraufhin sei er von einem der Jugendlichen geschlagen worden und habe dabei leichte Verletzungen erlitten.

Der NRW-Verfassungsschutzbericht

Im NRW-Verfassungsschutzbericht 2019 und zum Teil auch 2020 spielte Herne eine besondere Rolle und erhielt sogar ein eigenes Kapitel. Zurückzuführen war das vor allem auf die Aktivitäten der von Rechtsextremisten mitgetragenen Gruppe der „besorgten Bürger“, die im Sommer 2019 ihre wöchentlichen „Spaziergänge“ durch die Innenstadt starteten. Der starke Gegenprotest mündete bekanntlich in die Gründung des überparteilichen und antifaschistischen „Bündnis Herne“. Das Innenministerium zählte die „besorgten Bürger“ damals zur „rechtsextremistisch geprägten Mischszene“, die miteinander vernetzt sei und sich gegenseitig bei Veranstaltungen unterstütze.

In dem in der vergangenen Woche von NRW-Innenminister Herbert Reul vorgestellten Verfassungsschutzbericht 2022 taucht Herne explizit nicht mehr auf. Doch die Warnung des Landes vor der „völkisch-nationalistische Sammlungsbewegung“ in der AfD (ehemals: der „Flügel“) um die „Leit- und Identifikationsfigur Björn Höcke“ dürfte auch auf den Herner AfD-Kreisverband zielen – teilt dieser auf seiner Facebook-Seite doch immer wieder Posts und Inhalte des Thüringer Rechtsextremisten. Und am Empfang der AfD-Ratsfraktion nahm bekanntlich nicht nur der von der AfD rausgeschmissene Rechtsextremist Andreas Kalbitz teil, der wie Höcke vom Bundesverfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang als „geistiger Brandstifter“ und zentrale Figur des neurechten Netzwerks bezeichnet wurde.

Die Einschätzung des Bündnis Herne

„Ohne in Alarmismus zu verfallen, muss der Anstieg rechtsmotivierter Straftaten auf vorpandemisches Niveau aufhorchen lassen“, erklärt Jacob Liedtke vom Bündnis Herne. Und: „Es wäre ein politischer Fehler, sich als Stadtgesellschaft mit einem unvermeidlich erscheinenden Sockel von Delikten abzufinden und Taten als Normalfall erscheinen zu lassen, die die fundamentalen Rechte marginalisierter Personen auf körperliche und seelische Unversehrtheit adressieren und in Zweifel ziehen.“

Das Bündnis Herne organisierte 2019 und 2020 den Widerstand gegen die selbst ernannten „besorgten Bürger“. Die überparteiliche Initiative ist bis heute aktiv.
Das Bündnis Herne organisierte 2019 und 2020 den Widerstand gegen die selbst ernannten „besorgten Bürger“. Die überparteiliche Initiative ist bis heute aktiv. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Ihre Solidarität gehöre weiterhin allen von rechter Gewalt Betroffenen, „insbesondere LGBTIQ*-Personen, die gerade in Herne weiter mit offenen Feindseligkeiten zu kämpfen haben“. Auch die Versuche von rechtsextremen Kreisen im verschwörungsgläubigen Milieu, im Kontext der russischen Aggression gegen die Ukraine, der Folgen der damit verbundenen Inflation, der Aufarbeitung der Corona-Krise oder der eskalierenden Klimakatastrophe, nach Querfront-Bündnissen zu suchen, verlangten eine klare Haltung der demokratischen Mehrheit.

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Die Aufklärungsquote bei den politisch motivierten Straftaten lag nach Angaben der Polizei im Jahr 2022 in Herne bei rund 40 Prozent.

Und: Das für die Städte Herne, Bochum und Witten zuständige Polizeipräsidium betont, dass es in den drei Kommunen derzeit keine Hinweise auf eine strukturierte und organisierte Szene aus dem Bereich der sogenannten „Reichsbürger“ gebe.