Herne/Bochum. Notärzte werden immer häufiger wegen Kinkerlitzchen alarmiert, kritisiert ein Mediziner. Das sei frustrierend, teuer – und vor allem gefährlich.

Dr. Moritz Völker ist Notarzt aus Leidenschaft. Er schiebt in Herne regelmäßig 24-Stunden-Schichten, eilt mit seinem Wagen tags und nachts zu Menschen, die die 112 anrufen, um blitzschnell helfen zu können. „Notfallmedizin ist eine Passion“, sagt der Bochumer (33). Und seinen Job, betont er, „liebe ich“. Doch diese Liebe droht nun abzukühlen: Immer häufiger, klagt der Arzt, riefen Menschen wegen Bagatellen den Notruf. Die Folgen seien gravierend.

Leben retten, dafür sei er da. So wie neulich, als er zu einer großen Kreuzung in Herne gerufen wurde. Ein junger Mann, gerade mal 30 Jahre alt, sei auf der Straße einfach zusammengeklappt – Herzstillstand. Als er mit dem Notarzt-Wagen nach wenigen Minuten angekommen sei, hätten Passantinnen und Passanten schon alles richtig gemacht. Die Wiederbelebung lief, sogar Decken wurden gespannt, um Gaffern die Sicht zu nehmen. Moritz Völker übernahm den Mann, stabilisierte ihn, gemeinsam mit den Rettungssanitätern, und brachte ihn ins Krankenhaus. Dort konnte er behandelt und wieder fit gemacht werden. „Ohne die Ersthelfer, die eine super Arbeit geleistet haben, hätte er bestimmt einen Schaden behalten“, so der Mediziner.

Herner Notarzt: Anspruchsdenken hat zugenommen

„Wir sind in eine Dienstleistungsmentalität hereingerutscht“: Notarzt Moritz Völker an seinem Arbeitsplatz, in einem Rettungswagen.
„Wir sind in eine Dienstleistungsmentalität hereingerutscht“: Notarzt Moritz Völker an seinem Arbeitsplatz, in einem Rettungswagen. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Dass er rechtzeitig vor Ort war, sei aber keine Selbstverständlichkeit. „Gut, dass Rettungsmittel gerade frei waren“, sagt der Notarzt. Immer häufiger würden er und seine Kollegen wegen Kinkerlitzchen von der Arbeit abgehalten. Menschen wählten den Notruf, weil jemand in der Familie nachts Bauchweh oder Durchfall habe oder weil ihm sein Knie schmerze, kritisiert er. Andere hätten abends Fragen zu Medikamenten, die sie tagsüber verschrieben bekommen hätten. Wieder andere hätten durchaus ernste Probleme, etwa jene Angehörigen, die mit der Pflege eines Schwerkranken überfordert seien. Aber auch dafür seien sie nicht zuständig. Erst vor Ort sei meist klar, dass er schon wieder wegen eines Bagatellfalls angerückt sei. In Zweifel schicke die Leitstelle die Notärzte immer raus. Es kann schließlich ein Leben in Gefahr sein.

So dürfe es nicht weitergehen, sagt Dr. Moritz Völker, der im Hartmannbund, dem Berufsverband der deutschen Ärzte, Vorsitzender der Jugendärztinnen und -ärzte in Deutschland ist. Das Anspruchsdenken sei gewaltig geworden. Viele verlangten bei medizinischen Problemen, auch wenn sie nicht groß seien, sofortige Hilfe – und zwar, bitteschön, bei ihnen daheim. Deshalb riefen immer mehr Menschen den Notarzt. „Wir sind in eine Dienstleistungsmentalität hereingerutscht“, so der Mediziner. Das Argument der Menschen: Sie bezahlten ja schließlich ihre Krankenversicherung. Diese „Voll-Kasko-Mentalität“, wie der Mediziner dieses Anspruchsdenken nennt, müsse ein Ende haben. In der Notarzt-Medizin müsse, ja dürfe nicht alles „to go“ und „on demand“ sein, stellt er klar.

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Je öfter er und seine Kolleginnen und Kollegen wegen Kleinigkeiten ausrücken, desto häufiger fehlten Notärztinnen und Notärzte dort, wo sie wirklich gebraucht würden – bei „richtigen“ Einsätzen. Deshalb stünden Leben auf dem Spiel, wenn Menschen wegen „Befindlichkeitsstörungen“, wie er die Vorfälle nennt, die 112 wählten. Nicht zuletzt entstünden dadurch immense Kosten, die das Gesundheitssystem weiter verteuerten. Folge könnten sein: weniger Leistungen oder steigende Gebühren. Da die Bevölkerung immer älter wird, befürchtet er, dass die unnützen Notfall-Einsätze noch weiter zunehmen.

Dr. Moritz Völker fordert, dass mehr Menschen mehr Verantwortung übernehmen – für sich, für ihre Angehörigen und für die Gemeinschaft. Dazu gehöre, dass sie auch ihre Erkrankung in die eigene Hand nehmen, die Verantwortung dafür nicht immer weiterschieben, sprich: sich genau zu überlegen, wie, wann und von wem sie behandelt werden müssen. Im Regelfall sei das der Hausarzt oder auch ein Facharzt. Und wenn nötig, etwa abends oder nachts, dann gebe es auch Notdienst- oder Notfallambulanzen. Und wenn erforderlich, selbstverständlich auch den Notarzt über die 112.

>>> WEITERE INFORMATIONEN: Anästhesist im EvK

Dr. Moritz Völker ist seit 2018 Arzt und seit 2019 Notarzt. Seit 2021 ist er im Evangelischen Krankenhaus (EvK) als Anästhesist beschäftigt, an mehreren Tagen übernimmt er dabei im Stadtgebiet die Funktion eines Notarzts. Wählen Menschen über die 112 den Notruf, dann wird er von der Leitstelle zu einem Einsatz beordert, oder Rettungssanitäter vor Ort rufen ihn hinzu. Der 33-Jährige ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Bochum-Langendreer.

Träger des Rettungsdienstes in Herne ist die Stadt. Sie kooperiert dazu mit der Evangelischen Krankenhausgemeinschaft Herne und der St. Elisabeth-Gruppe. Zwei Notarzt-Einsatzfahrzeuge sind ständig im Dienst, Standorte sind das EvK Herne und das St. Anna Hospital in Wanne. Über 50 Notärztinnen und -ärzte werden aus den beiden Krankenhausgesellschaften für die Besetzung des Notarztdienstes gestellt.