Herne. Der Linken droht der Zerfall. Wie der Herner Ex-Europaabgeordnete Jürgen Klute die Lage beurteilt und warum er von der letzten Chance spricht.

Die Linke steht am Abgrund. Die WAZ sprach mit dem früheren Herner Europaabgeordneten und evangelischen Sozialpfarrer Jürgen Klute (nicht nur) über die Situation seiner Partei.

Mal vorab gefragt angesichts der Turbulenzen in der Linken: Sind Sie noch Mitglied?

Jürgen Klute: Ja, bin ich. Manchmal denkt man natürlich darüber nach, aber ich habe mich bisher nicht entschieden auszutreten.

Gibt es eine Schmerzgrenze, bei deren Überschreiten Sie sagen: Ich bin raus.

Es gibt sicherlich eine Schmerzgrenze, ich kann sie aber nicht klar definieren. Ich hätte auch schon aus der Kirche austreten können, wenn ich mir bestimmte Dinge anschaue – zum Beispiel das Arbeitsrecht. Insofern bin ich einigermaßen strapazierfähig. Um es klar zu formulieren: Wenn sich die nationalistischen Linien durchsetzen, wie sie von Sahra Wagenknecht vertreten werden, würde ich die Partei verlassen.

Jürgen Klute (68) glaubt, dass die im Niedergang befindliche Linkspartei in diesem Jahr „die letzte Chance“ auf eine Wende hat.
Jürgen Klute (68) glaubt, dass die im Niedergang befindliche Linkspartei in diesem Jahr „die letzte Chance“ auf eine Wende hat. © Claus Siebeneicher

Was sind die Gründe für den Niedergang der Linkspartei?

Es gibt für mich zwei zentrale Ursachen. Da ist zum einen ein struktureller Hintergrund, der mir schon aufgefallen ist, als ich noch im Europäischen Parlament war. Die Linke war immer bezogen auf die Industriearbeiterschaft, die es inzwischen aber kaum mehr in ihrer klassischen Form gibt. Die Basis der linken Parteien, der Gewerkschaften und Arbeiterbewegung ist damit weitgehend weg. Das trifft auch die SPD. Das heißt nicht, dass Anliegen einer linken Partei wie soziale Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit damit weg sind, aber sie sind in einer völlig anderen gesellschaftlichen Struktur zu vertreten.

Und der zweite Punkt?

Die Linke hat zwar einerseits ein Programm, das viele Menschen richtig finden. Sie sagen aber: Wir wissen nicht, wofür die Partei wirklich steht, denn wenn wir Sahra Wagenknecht hören, dann klingt das ganz anders. Das gilt sowohl für Migrationspolitik als auch für den Umgang mit der AfD und dem Krieg in der Ukraine.

Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in Deutschland immer weiter auseinander, gleichzeitig beschäftigt sich die Partei, die soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat, nur mit sich selbst. Ist das nicht bitter für Sie als Mitglied?

Ich würde nicht sagen, dass sich die Linke nicht aktiv für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Eine Berufsgruppe, die mit am stärksten unter Ungleichheit und Unterbezahlung leidet, sind die Pflegerinnen und Pfleger. Die Linke setzt sich hier sehr wohl für eine gerechte Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen ein. Das geht aber unter, weil es zurzeit nicht das ganz große Thema ist. Vielleicht wird es aber auch nicht ausreichend kommuniziert.

Haben Sie die Hoffnung, dass die Partei noch einmal die Kurve kriegt oder wird die Linke demnächst bei Wahlen als Splitterpartei der Rubrik „Sonstige“ zugeordnet?

Die Gefahr, dass die Linke untergeht, besteht. Hinter den Auseinandersetzungen steht ja die Frage: Wohin will die Partei gehen? Und es sieht derzeit so aus, dass die Beantwortung nicht mehr weiter verschoben werden kann. Ich glaube, das ist die letzte Chance. Die Linke wird aus sozialpolitischer Sicht gebraucht, aber ob sie es wirklich schafft, wird sich im Laufe dieses Jahres wohl zeigen.

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Ist es realistisch, dass die Wende mit Sahra Wagenknecht gelingt? Anders gefragt: Würden Sie sich wünschen, dass sie wie ihr Ehemann Oskar Lafontaine aus der Partei austritt?

Ich bin immer für eine offene Diskussion und Meinungsvielfalt, aber es gibt natürlich einen Punkt, wo man darüber reden muss, ob es noch zusammenpasst. Ich bin hier etwas gespalten: Was Sahra Wagenknecht sagt, passt nicht zu meiner Position. Ich bin aber vorsichtig damit, jemanden einfach aus der Partei zu werfen, denn eine Partei lebt von Meinungsvielfalt. Aber wenn Sie mich so fragen: Nein, die Positionen von Sahra Wagenknecht und der Linken passen nicht mehr zusammen.

Reizfiguren: Oskar Lafontaine ist bereits ausgetreten, von seiner Gattin Sahra Wagenknecht wünschen sich dies viele Mitglieder in der Linkspartei ebenfalls.
Reizfiguren: Oskar Lafontaine ist bereits ausgetreten, von seiner Gattin Sahra Wagenknecht wünschen sich dies viele Mitglieder in der Linkspartei ebenfalls. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Martin Schutt

Trügt mein Gefühl, dass die große Mehrheit der Herner Mitglieder diese Einschätzung teilt?

Nein, die Linke in Herne ist in dieser Frage ziemlich geschlossen. Insbesondere beim Thema Migration, beim Umgang mit rechten Parteien und bei der Einschätzung des Krieges gibt es eine klare Haltung.

Zu einer Wende oder einem Neuanfang gehören ja immer auch neue Personen an der Spitze. Wer sollte künftig an der Spitze eine größere Rolle spielen?

In NRW habe ich einen sehr guten Eindruck vom Co-Vorsitzenden Jules El-Khatib. Er macht einen sehr guten Job. Es wird aber schwierig werden, bei der Landtagswahl über die 5-Prozent-Hürde zu springen.

Und auf Bundesebene?

Das ist etwas komplizierter. Ich hatte gehofft, dass sich die Co-Vorsitzende Janine Wissler etablieren kann. Durch die Diskussionen über sexuelle Übergriffe in der Linken und den Umgang damit in Hessen ist sie als Vorsitzende beschädigt. Ein weiteres Problem: Die Linke ist eine Partei, die sich programmatisch feministisch definiert. In der Praxis sieht das aber etwas anders aus.

Janine Wissler führt die Linke derzeit nach dem Rücktritt der Co-Vorsitzenden Susanne Henning-Wellsow derzeit allein.
Janine Wissler führt die Linke derzeit nach dem Rücktritt der Co-Vorsitzenden Susanne Henning-Wellsow derzeit allein. © dpa | Christophe Gateau

Stichwort Kreisverband: Haben Sie eigentlich mal überlegt, in der Herner Linkspartei mehr Verantwortung zu übernehmen?

Nein, das ist nicht mein Ding. Ich bin Kassenwart im Vorstand und in dem einem oder anderen Ausschuss des Rates aktiv. Wir hatten in Herne zuletzt in der Partei etwas Zuwachs von jüngeren Leuten, darunter einige Frauen. Das ist ja auch eine der Möglichkeiten der Linken, sich zu profilieren: auf kommunaler Ebene eine gute Arbeit zu machen. Ich denke, in Herne funktioniert das im Großen und Ganzen.

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In den Wahlergebnissen spiegelt sich das nicht unbedingt wider. Bei Kommunalwahlen ist die Zahl der Stimmen für Ihre Partei von 2009 bis 2020 mehr als halbiert worden. Ist das nur Bundes- oder Landestrends geschuldet oder gibt es auch hausgemachte Gründe?

Ich habe schon den Eindruck, dass wir eine gute Arbeit gemacht haben. Eine grundsätzliche Frage ist, ob man sich auf die Arbeit im Rat konzentrieren sollte. Das kostet relativ viel Kraft. Man kann hier den einen oder anderen kleinen Erfolg verbuchen, doch die Frage ist immer: Wer kriegt das mit? Es liegt neben dem Trend in Bund und Land auch an solchen strukturellen Fragen, dass die Linke in Herne Stimmen verloren hat.

Ratsfraktions-Chefin Veronika Buszewski (vorne links) und Fraktions-Geschäftsführer Daniel Kleibömer (daneben) am Abend der für die Herner Linkspartei alles andere als erfolgreichen Kommunalwahl 2020. Hinten (Mi.): Jürgen Klute.
Ratsfraktions-Chefin Veronika Buszewski (vorne links) und Fraktions-Geschäftsführer Daniel Kleibömer (daneben) am Abend der für die Herner Linkspartei alles andere als erfolgreichen Kommunalwahl 2020. Hinten (Mi.): Jürgen Klute. © FUNKE Foto Services | Klaus Pollkläsener

Ganz harter Schnitt: Durch den Ukraine-Krieg sind die Grundüberzeugungen vieler Linken und Pazifisten erschüttert worden. Gilt das auch für Sie?

Ich bin nie Radikalpazifist gewesen. Der deutsche Nationalsozialismus ist nicht mit pazifistischen Mitteln gestoppt worden. Meine Haltung ist, dass man sich grundsätzlich auf Konfliktprävention konzentrieren muss. Bei dieser Linie bleibe ich auch. Es gibt aber offensichtlich Situationen, in denen diplomatische Wege nicht weiterhelfen. Wenn Sie einen Verhandlungsfrieden haben wollen, müssen Sie etwas zum Verhandeln haben. Ich finde, dass die Friedensbewegung hier etwas genauer auf die Konflikte und mögliche Lösungen schauen müsste. Mein Eindruck ist, dass es beim Krieg in der Ukraine auch um die Energiewende geht.

Was meinen Sie damit?

Russland ist stark vom Export fossiler Energien wie Öl, Gas und Kohle abhängig. Wenn man dann sieht, dass im jüngsten Weltklimabericht gefordert wird, dass die C02-Emissionen nach 2025 nicht mehr steigen dürfen, damit die Klimaziele erreicht werden, wird klar, wie schnell ein Ausstieg aus der fossilen Energie erforderlich wäre. Für Russland würde das aber bedeuten, dass die Wirtschaft Ende des Jahrzehnts kollabieren würde. Es ist deshalb meines Erachtens nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern auch gegen die EU, die ja das Erreichen von Klimazielen vorantreibt. Mit den alten Appellen der Friedensbewegung, die fokussiert waren auf die Nachrüstungsdebatte, kommt man deshalb nicht weiter. Man müsste vielmehr fragen, wie man auf europäischer Ebene eine Energie- und Sicherheitspolitik betreiben kann, die auch für Russland und die Ukraine attraktiv ist.

Jenseits dieser Überlegungen bleibt allerdings die aktuelle Frage: Sollen jetzt schwere Waffen an die Ukraine geliefert werden, so wie es die Bundesregierung nach langem Zögern und Zaudern nun beschlossen hat? Ihre Antwort?

Meine persönliche Haltung ist: Wenn Sie keine andere Chance haben, die Aggression zu stoppen, dann müssen Sie dem angegriffenen Land die Chance geben, sich selbst verteidigen zu können. Das entspricht auch dem Völkerrecht. Andernfalls wird die internationale Rechtsordnung untergraben und durch das Recht des Stärkeren ersetzt. Anschließend wäre es aber wichtig, nicht weiter aufzurüsten, sondern zu einer neuen Sicherheitsarchitektur zu kommen. Meine Befürchtung ist, dass eine Militarisierung der Gesellschaft eingeläutet wird. Das von Bundeskanzler Scholz angekündigte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr hat mit der Ukraine nichts zu tun.

Schlussrunde: Gute Note für Außenministerin Baerbock

Richtig oder falsch? Die Linke im Osten und die Linke im Westen sind unterschiedliche Parteien.

Richtig.

Nicht Susanne Henning-Wellsow, sondern Janina Wissler hätte als Co-Vorsitzende der Linkspartei zurücktreten sollen.

Keine hätte zum jetzigen Zeitpunkt zurücktreten sollen.

Der Politiker Oskar Lafontaine ist für mich …

… kein Linker.

Ist er ja auch nicht mehr.

Er war für mich noch nie ein Linker.

Der neuen Außenministerin Annalena Baerbock gebe ich für ihren Start die Schulnote …

… zwischen 2 und 3. Ich war erst skeptisch, aber sie hat meine Erwartungen übertroffen. Was mich beeindruckt, ist ihr Ansatz von der feministischen Außenpolitik.

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) – hier bei einem Besuch deutscher Truppen in Litauen – hat die Erwartungen von Jürgen Klute (Linke) bisher übertroffen.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) – hier bei einem Besuch deutscher Truppen in Litauen – hat die Erwartungen von Jürgen Klute (Linke) bisher übertroffen. © dpa | Michael Kappeler

>>> Zur Person: Von 2009 bis 2014 im Europäischen Parlament

2009 zog der Herner Sozialpfarrer Jürgen Klute für die Linkspartei über die Reserveliste ins Europäische Parlament ein. Zur Europawahl 2014 trat er nicht mehr an.

Bei der NRW-Landtagswahl 2005 in Nordrhein-Westfalen war er Spitzenkandidat der WASG, die später mit der SED-Nachfolgepartei PDS fusionierte. Aktuell ist er Mitglied der religionspolitischen Kommission des Bundesvorstands der Linkspartei.

Jürgen Klute ist verheiratet und hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.