Herne. Der Herner Christoph Wiemer, Chefarzt im Ruhestand, ist an der ukrainischen Grenze. Dort hilft er in einem Flüchtlingslager. Was er dort erlebt.
Der Herner Arzt Dr. Christoph Wiemer ist nach Polen an die ukrainische Grenze gereist. In einem Supermarkt, der zu einem Auffanglager umfunktioniert wurde, kümmert sich der Mediziner um verletzte ukrainische Kriegsflüchtlinge. „Als Chirurg habe ich schon einiges erlebt“, sagt er am Telefon zur WAZ. Nun seien auch Horror, Not und Elend, verursacht durch einen Krieg, in seinem Berufsleben hinzugekommen: „Man sieht den Gesichtern all das Leid an“, so Wiemer.
Bis zum vergangenen Sommer war der 66-Jährige Chefarzt für Bauch- und Unfallchirurgie am Evangelischen Krankenhaus (EvK) in Castrop-Rauxel; dann trat er in den Ruhestand. Als er nun im Fernsehen die Bilder der Kriegsflüchtlinge gesehen hat, die zu Zehntausenden ihre Heimat verlassen, um sich in den Westen durchzuschlagen, sei für ihn schnell klar gewesen: Da helfe ich! Über die Björn Steiger Stiftung, die sich für die Notfallhilfe und das Rettungswesen einsetzt, wurde er Ende vergangener Woche ins polnische Chelm geschickt, eine Stadt mit 65.000 Einwohnern an der ukrainischen Grenze.
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Herner Arzt: „Man ist hier an der medizinischen Front“
Dort arbeitet Wiemer in einem Supermarkt, der jetzt als Erstaufnahmelager dient. „Der wurde komplett leer geräumt, 700 Feldbetten wurden darin aufgestellt“, erzählt er. Die Kriegsflüchtlinge würden dort aufgenommen, blieben einen oder mehrere Tage, bevor sie auf andere Regionen oder Länder verteilt würden. In dem Gebäude herrsche großer Trubel, außerdem ein Lärm wie in einer Bahnhofshalle. Viele Menschen versuchten, sich mit Abdeckungen ein wenig Privatsphäre zu verschaffen, andere schliefen sofort ein.
Die Menschen – meist Mütter, Großmütter und Kinder – seien oft völlig erschöpft, unterkühlt, hätten oft tagelang nichts gegessen oder lange nichts getrunken. Viele litten deshalb unter Durchfällen. Oder der Blutdruck sei im kritischen Bereich. Hinzu kämen viele Krankheiten, die die Menschen schon zu Hause gehabt hätten und die nun auf der Flucht weiter behandelt werden müssten. Helferinnen und Helfer hätten in dem Komplex eine kleine Ambulanz eingerichtet, in der die Geflüchteten vom ehrenamtlichen medizinischen Personal betreut würden. „Man ist hier an der medizinischen Front“, so der Arzt, der in Herne-Mitte wohnt. Zwölf-Stunden-Schichten seien deshalb keine Ausnahme. Dieses ganze Leid zu erleben, sei sehr bedrückend. „Ich versuche, das nicht alles an mich heranzulassen“, bekennt er.
Es gebe aber auch positive Eindrücke. So funktioniere die Hilfe für die Geflüchteten gut. Medizinische Helfer seien aus vielen Ländern angereist, um zu helfen. In dem Chelmer Supermarkt gebe es nicht nur ihn als Chirurgen, sondern etwa auch Ärzte aus Australien, den USA und Kanada, eine Hebamme aus Deutschland und eine polnische Krankenschwester. Das internationale Team sei „bunt zusammengewürfelt“, könne gemeinsam aber gut zusammenarbeiten und viel erreichen. Auch die nötigen Medikamente seien angekommen: Eine kleine Apotheke sei in dem Lager eingerichtet worden.
Nun sei er „Arzt im wahren Sinne des Wortes“
Für ihn sei das Engagement an der ukrainischen Grenze „Arbeiten im Sinne von Albert Schweitzer“. Er könne „Arzt im wahren Sinne des Wortes“ sein. Die heutigen Krankenhäuser zu Hause würden „rein wirtschaftlich“ geführt, in dem Lager arbeite er dagegen „rein ehrenamtlich karitativ“, die „medizinische Zwangs-Ökonomie“ fehle im Gegensatz zu den Kliniken in Deutschland völlig: „Hier zählt menschliche Empathie, dort Ertrag in Euro“, so der ehemalige Chefarzt.
Osteuropa habe für ihn, ja für seine Familie, eine besondere Bedeutung, erzählt Dr. Wiemer. Sein Großvater habe in der Nazi-Zeit als Gynäkologischer Chefarzt in Bochum am Elisabeth-Krankenhaus jüdische Frauen im Krankenhaus versteckt und so vor der Deportation gerettet. Sein Vater sei als Arzt im Krieg und in Gefangenschaft unter anderem in der ukrainischen Großstadt Charkiw gewesen; später, in den 1980er Jahren, habe er ihn auf einer Fahrt bis nach Tiflis in Georgien begleitet, auf den Spuren seiner Erlebnisse. Und: Sein Sohn sei vor zwei Jahren im modernen Kiew gewesen. „So habe ich einen sehr persönlichen intensiven Bezug voller Erinnerungen zur Ukraine und ihren Menschen“, sagt Dr. Wiemer. Nun fügt er ein eigenes Kapitel hinzu.
>> WEITERE INFORMATIONEN: Zunächst bis zum Wochenende im Einsatz
Der ehemalige Chefarzt Dr. Christoph Wiemer arbeitet noch bis zum kommenden Wochenende ehrenamtlich als Arzt in dem Flüchtlingslager an der ukrainischen Grenze. Dann kehrt er nach Hause zurück.
Er kann sich aber gut vorstellen, dass er in Kürze wieder an die ukrainische Grenze abreist – um vor Ort weiter zu helfen.