Herne. Timon Radicke, CDU-Chef in Herne, ist Bundeswehr-Reserveoffizier. Das sagt er über den Ukraine-Krieg, die Truppe und das Verhältnis zu Russland.
Timon Radicke, CDU-Kreisvorsitzender und CDU-Fraktionschef in Herne, ist Reserveoffizier bei der Bundeswehr und wird in Kürze eingezogen. Im Interview spricht der 36-Jährige über den Ukraine-Krieg, den Zustand und die geplante Stärkung der Truppe sowie den Konflikt mit Russland.
Herr Radicke, am 28. März werden Sie als Reserveoffizier eingezogen. Was hat es damit auf sich?
Zunächst muss man wissen, dass es drei Arten von Reservisten gibt: einmal die passiven Reservisten, also diejenigen, die Grundwehrdienst geleistet haben und im Fall einer Generalmobilmachung reaktiviert werden können. Dann gibt es aktive Reservisten, also diejenigen, die sich organisieren, Kontakt zu einer Truppe haben und regelmäßig, etwa ein- zweimal im Jahr an Übungen teilnehmen. Und dann gibt es die Reservisten, zu denen ich zähle. Das sind diejenigen, die sich verpflichten, mindestens 33 Tage im Jahr Übungen abzuleisten und dabei auch einen Dienstposten haben. Ich bin Chef einer Batterie, und diesen Dienstposten kann ich immer von heute auf morgen antreten.
Normalerweise nutzen Sie als Lehrer zumindest einen Teil der Ferien, um als Reservist bei Ihrer Truppe zu sein. Ist der Ukraine-Krieg der Grund dafür, dass sie jetzt schon vor den Ferien eingezogen werden?
Es ist in der Tat so, dass die Bundeswehr jetzt die Nähe zu den Reservisten sucht und schaut, wer aktiv und in der Lage ist, Dienst abzuleisten. Hinzu kommt, dass aus meinem Bataillon in den nächsten Monaten Kräfte nach Litauen an die Nato-Ostflanke verlegt werden; da gehöre ich aber nicht zu. Wichtig ist es, als Reservist im Bataillon zu üben, um im Ernstfall einsatzbereit zu sein. In der aktuellen Lage, das muss man ehrlicherweise auch sagen, kommt dem Dienst in der Truppe besondere Bedeutung zu.
In was für einem Bataillon sind Sie Reservist?
In einem Artillerie-Bataillon. Wir haben als Waffensystem die Panzerhaubitzen 2000 und den Raketenwerfer Mars. Wir sind dafür da, 30 Kilometer hinter der Front mit unseren Waffen zu wirken. Wir sind diejenigen, die der Infanterie Feuerunterstützung geben. Ich führe dabei die Versorgungsbatterie. Ich bin dafür verantwortlich, dass Munition, Betriebsstoffe und Verpflegung am richtigen Ort ankommen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat nach dem Angriff der Russen auf die Ukraine im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen und angekündigt, dass die Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro aufgerüstet wird. Außerdem soll das Zwei-Prozent-Ziel erreicht werden, sprich: die Bundeswehr soll ab sofort zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Ist diese massive Aufrüstung der logische Schritt nach dem Angriff der Russen?
Ich halte nichts vom Begriff „Aufrüsten“, sondern vom Begriff „Ausrüsten“. Wir haben seit den 90er-Jahren die Bundeswehr konsequent kaputtgespart. Und wir haben den Bürgerinnen und Bürgern nie deutlich gemacht, warum es wichtig ist, Streitkräfte zu unterhalten: dass sie eben keine Karnevalstruppe sind, sondern diejenigen, die im Ernstfall den Kopf dafür hinhalten, um unsere Freiheit zu verteidigen. Und deswegen müssen wir der Truppe das Gerät an die Hand geben, mit dem sie ihren Auftrag ausführen kann. Es geht also nicht darum, dass wir die Bundeswehr zu einem stehenden Heer mit 500.000 Soldatinnen und Soldaten aufrüsten, sondern darum, dass wir die Kräfte so ausrüsten, dass sie ihren Auftrag der Landesverteidigung auch durchführen können.
Sie kennen die Strukturen der Bundeswehr als Hauptmann der Reserve gut. Woran hapert es besonders?
Ein Beispiel: Seit Anfang der 2000er Jahre haben wir überhaupt keine nennenswerte Flugabwehr mehr in Deutschland. Wir hatten früher ganze Bataillone mit Flugabwehrraketen, die in der Lage waren, feindliche Bomber und Hubschrauber abzuwehren. Jetzt sind wir angewiesen auf Unterstützung durch die Nato. Andere Nato-Mitgliedstaaten müssten also für unsere Flugabwehr sorgen. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.
Die Zeiten, in denen die Bundeswehr noch voll einsatzbereit war, kennen Sie gar nicht mehr.
Genau, ich habe meine Grundausbildung 2005 gemacht, bin also im Mangelsystem groß geworden. Auch hier ein Beispiel: In meiner Grundausbildung haben wir während einer Übung 15 Schuss Platzmunition bekommen. Wenn dann ein Feuerüberfall kam, dann musste ich mir gut überlegen: Schieße ich jetzt dreimal? Oder schieße ich fünfmal? Und habe ich hinterher noch was? Man fängt also an zu improvisieren. In den vergangenen Jahren wurden massive Fehler in der infrastrukturellen Planung der Bundeswehr gemacht, gerade an den Heeresstandorten.
Welche Fehler sind das?
Wir haben versucht, die Bundeswehr zu einem Arbeitgeber zu machen, der am Arbeitsmarkt überleben kann. Mit einem Nine-to-five-Job, in dem es keine Stuben in der Kaserne mehr gibt, in dem sich die Leute am Standort Wohnungen suchen müssen und in dem Kameradschaft weniger bedeutet. Dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn am Ende des Tages der eine für den anderen nicht mehr den Hintern hinhält. Am Ende sollen die Soldaten kämpfen können. Und kämpfen können sie nur mit einer entsprechenden Stärke, mit der richtigen Ausrüstung und mit der inneren Einstellung.
Und mit 100 Milliarden Euro werden diese Fehler nun ausgebügelt?
Es geht ja nicht nur ums Geld. Es wird uns nur gelingen, diese Bundeswehr schlagkräftig zu machen, wenn wir sie professionalisieren und attraktiv machen. Dabei geht auch darum, dass das komplette Beschaffungsmanagement überdacht werden muss. Nur Geld, nur 100 Milliarden, bringen keine Lösung aller Probleme. Beispiel: Wir haben in der Bundeswehr sechs oder sieben verschiedene leichte Geländefahrzeuge. Um in der Truppe ein Fahrzeug bewegen zu können, müssen sie auf jedem einzelnen Fahrzeug eingewiesen sein. Das ist umständlich und unverständlich. Wir brauchen aber nur ein System, von mir aus auch von einem europäischen Partner, das sich bewährt hat. Der Aufbau eines effizienten Beschaffungssystems wird die große Herausforderung.
Sie kritisieren auch, dass die Bundeswehr kaputtgespart worden sei. Das hat doch dann maßgeblich Ihre Partei, die CDU, zu verantworten, die seit dem Ende des Kalten Krieges die meisten Jahre den Bundeskanzler beziehungsweise die Bundeskanzlerin gestellt hat.
Es gab zuletzt vier CDU-Verteidigungsminister und drei SPD-Verteidigungsminister. Und natürlich hat es dort Fehler und strukturell falsche Entscheidungen gegeben. Aber: Man muss sich auch in ihre Zeit zurückdenken. Man denke etwa an den Beginn des Afghanistan-Einsatzes, als der damalige Verteidigungsminister Guttenberg gesagt hat, dass die Bundeswehr nun eine Einsatzarmee sei und keine Verteidigungsarmee mehr. Das war nach dem 11. September 2001. Und das war die Zeit, in der Putin im Bundestag von einer große Freihandelszone von Lissabon nach Wladiwostok gesprochen hat. Dass die Politik den Deutschen zu dem Zeitpunkt keine Bündnisverteidigung verkaufen konnte, das war klar. Es ist traurig, dass erst die Bedrohung von außen kommen muss, damit uns klar ist, dass wir aus dieser naiven Welt aufwachen, in der wir glauben, dass wir unsere Freiheit zum Nulltarif bekommen. Wir müssen Menschen deshalb jetzt dafür begeistern, dass es wert ist, sich für dieses Land einzusetzen und die Freiheit unseres Landes und Europas zu verteidigen. Das ist im 21. Jahrhundert nicht ganz einfach.
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Wie soll das gehen?
Attraktivität wurde an den falschen Stellen geschaffen. Kein Mensch interessiert sich dafür, in welcher Stube er wohnt, ob er zu viert untergebracht ist, zu zweit oder alleine mit einem Kühlschrank. Ich habe zehn Jahre lang Rekruten ausgebildet und weiß: Die Soldaten wollen geregelte Tagesabläufe, klare Strukturen, klare Aufträge, Kameradschaft erleben, und sie wollen über ihre körperlichen Grenzen gehen. Das sind alles Dinge, die wir in den letzten Jahren heruntergeschraubt haben, um zu sparen. Da erwarte ich einen Paradigmenwechsel. Und natürlich müssen wir die Leute auch so bezahlen, dass sie von diesem Beruf gut leben können.
Würde auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht helfen, junge Menschen an die Truppe zu binden und sie attraktiver zu machen?
Nein. Ich bin noch ein Kind der Wehrpflicht und 2005 eingezogen worden – gemeinsam mit nur noch zwei weiteren jungen Männern aus meinem Schuljahrgang. Das zeigt: Es wurde ja nur noch ein Bruchteil der Leute eingezogen. Eine Initiative, die Wehrpflicht wieder einzuführen, muss deshalb scheitern, auch wenn sie sehr charmant wäre.
Der Ruf des Bundeswehr-Soldaten war nicht immer der Beste – um es vorsichtig zu sagen. Erleben Sie nun eine andere Wahrnehmung?
Ja. Zum Beispiel in meinem Umfeld: Da weiß man, dass ich Reserveoffizier bin. Da gab es früher vor Wehrübungen schon mal ironische Sprüche mit dem ein oder andern Augenzwinkern, aber auch Sätze wie: „Na, gehst du wieder im Matsch kriechen?“ Jetzt ist die Wahrnehmung eine andere: Ich bekomme positive, interessierte und respektvolle Rückmeldungen. Denn das ist jetzt nicht mehr die Truppe, die nach 1989 mit „Spindsaufen“ (beliebtes Trinkspiel bei der Bundeswehr, Anm. der Red.) und „Friedensdividende“ (Verschieben der Verteidigungsausgaben in andere, zum Beispiel soziale Bereiche, Anm. der Red.) verbunden wurde, sondern die Truppe, die im Ernstfall neben Frankreich und den anderen Nato-Staaten das Nato-Gebiet auch mit Waffengewalt verteidigt. Das wird vielen Menschen angesichts dieser fürchterlich brutalen Bilder aus der Ukraine jetzt erst deutlich.
Wie konnte es soweit kommen? Hat die Politik im Westen seit dem Kalten Krieg versagt?
Versagen ist ein sehr hartes Wort. Nach 1990 haben wir, und damit meine ich vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, es nicht verstanden, Russland in Europa einzubeziehen. Putins Rede 2001 im Bundestag hätte ein Aufschlag sein müssen dafür, dass man Russland ganz klar sagt: Ihr seid nicht die Verlierer des Kalten Krieges, sondern ihr seid die Gewinner des Endes vom Warschauer Pakt. Weil wir euch jetzt als gleichberechtigter Partner an unsere Wirtschaftskraft anbinden. Und ich hätte es für richtig gehalten, über ein Sicherheitsbündnis mit Russland nachzudenken.
Stattdessen wurde Russland in weiten Teilen allein gelassen, konnte später schalten und walten, wie es wollte. Egal ob Georgien oder die Krim: Die deutsche Politik setzte auf Diplomatie. Ist Diplomatie gescheitert?
Nein. Der Wandel durch Handel, also mit langem Atem zu versuchen, Strukturen zu verändern, das ist nachweislich nicht gelungen. Aber da ist man jetzt natürlich auch schlauer. Hätte man gegenüber Russland anders auftreten müssen in den letzten 20 Jahren? Ja. Haben wir uns von der Energieversorgung Russlands abhängig gemacht? Ja. Und wir sehen jetzt, wohin es uns führt, wenn wir immer davon ausgehen, dass unser Gegenüber uns automatisch wohl gesonnen ist. Deshalb ist die Ausrüstung der Bundeswehr ein notwendiges Übel. Deshalb ist Diplomatie aber nicht gescheitert. Der diplomatische Weg muss immer wieder versucht werden. Und das geht in diesem Fall nur über China.
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Wie wird dieser Krieg enden?
Am Ende werden wir eine völlig destabilisierte Ukraine haben, mit zerbombten Städten, humanitären Notlagen und Flüchtlingsmassen, so wie wir es jetzt schon erleben. Und wir werden ein Land mit unklaren Grenzen und vielleicht mit einer Marionettenregierung haben, so dass Europa nicht weiß, mit wem man da eigentlich verhandeln soll. Syrien ist dafür eine Blaupause. Was Putin angeht: Er kann nur noch verlieren. Sein Plan, die Ukraine in einem Blitzkrieg einzunehmen, ist gescheitert. Wenn er einen militärischen Sieg erzielt, bekommt er einen blutigen Partisanenkrieg. Und wenn er militärisch unterliegt, was ich nicht glaube, dann wackelt sein Stuhl in Moskau. Weiterer großer Verlierer ist Russland und sind die Menschen in Russland.
Sie befürchten also nicht, dass sich der Krieg auf ganz Europa oder sogar die ganze Welt ausweitet?
Ich kann nicht einschätzen, wie Putin reagiert, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. In der alten Sowjetunion hatte die Kommunistische Partei noch ein Politbüro, dass Entscheidungen traf. Das waren teilweise sehr vernünftige Leute, die ganz genau wussten, was sie taten und wie weit sie mit Drohungen gehen konnten. Jetzt haben wir es mit einem totalitären Alleinherrscher zu tun. Dass sein Militär im Ernstfall Befehle nicht ausführt, das wage ich zu bezweifeln.
>> WEITERE INFORMATIONEN: 200 Mann unter sich
Timon Radicke (36), Lehrer für Deutsch und Englisch am Mulvany-Berufskolleg in Herne, ist seit 2017 Kreisvorsitzender der CDU in Herne und seit 2020 CDU-Fraktionsvorsitzender im Rat der Stadt Herne. Er ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Herne-Mitte.
Seit über 15 Jahren ist Radicke Reserveoffizier bei der Bundeswehr. Sechs Wochen lang leistet er jährlich seinen Dienst in Munster (Lüneburger Heide) ab. Als Hauptmann der Reserve vertritt er dabei den etatmäßigen Hauptmann, etwa wenn dieser im Urlaub oder Einsatz ist, und hat er dann rund 200 Männer und Frauen unter sich.