Herne. Wenn alle Corona-Regeln nicht mehr gelten, was bleibt dann von den neuen Kulturformaten? Im Corona-Check blicken wir auf die Herner Kulturszene.
Als die Corona-Pandemie das Kulturpublikum aussperrte, war die Stunde des Livestreams gekommen. Gestreamt wurde aus dem Alten Wartesaal wie aus den Flottmann-Hallen, die Kamera hielt fest, was das bloße Auge nicht mehr sehen konnte: Lesung und Bandfusion, Krypto-Show und Büchernacht bis hin zu den Tanzperformances von Ensample und Renegade. Was bleibt davon, wenn das Publikum zurückkehrt?
Digitaler Schritt nach vorn
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Für Claudia Stipp ist der digitale Schritt nach vorne das einzig Positive, das die Pandemie mit sich gebracht hat. „Das hätte sonst länger gedauert“, weiß die Leiterin des Fachbereichs Kultur, „so waren wir gezwungen etwas zu entwickeln.“ Dazu musste zunächst das technische Equipment - Kameras, Laptops, Mikros, Stative … - angeschafft werden, wobei das Förderprogramm „Neustart Kultur“ half. Nachdem zunächst Experten wie Patrick Praschma eingekauft wurden, sei inzwischen auch das eigene Technik-Team der Stadt so fit, dass etwa Videos über die Kunstausstellungen gedreht werden könnten.
Auch die erfolgreiche virtuelle „Nacht der Bibliotheken“ wurde mit eigenen Kräften produziert. Während hier mit fast 7000 Aufrufen die Resonanz überraschend groß war, blieb etwa die letzte Ausgabe des Wartesaal-TV mit rund 100 Zuschauern hinter den Erwartungen zurück.
Aus der Erfahrung, dass „Frontalbespaßung“ nicht das A und O ist, entwickelten sich auch interaktive Formate wie die Krypto-Show bei Flottmann mit ihren zugeschalteten Künstlern und dem sichtbaren Publikum. In anderen Livestreams können sich Besucher per Chat bemerkbar machen.
Live-Erlebnis mit besonderem Flair
Trotzdem glaubt Claudia Stipp an das Live-Erlebnis. Mischformen kann sie sich vorstellen: ein Wettbewerb „Tegtmeiers Erben“ zum Beispiel könnte auf einem zweiten, digitalem Weg noch mehr Zuschauer erreichen, und warum nicht eine Bibliotheken-Nacht mit Tutorials für Kinder ergänzen?
Nachdem sich abseits des Digitalen auch Freiluft-Veranstaltungen bewährt hätten, sei zu überlegen, ob nicht regelmäßig eine Bühne bei Flottmann für ein Kultur-Open-Air aufgebaut werden könne, sagt Stipp. Auch die „Fenster Auf“-Konzerte und „Peer im Park“ vom Theater Kohlenpott und Partnern seien vielversprechende Ansätze gewesen, ebenso die Drive-in-Kunstausstellung in der Tiefgarage des Kulturzentrums.
Neue Möglichkeiten und Formate
Für Chris Wawrzyniak, seit Anfang Mai Leiter des Kulturbüros, hat sich ein „Riesenmöglichkeitsraum geöffnet“. Aus der Not seien neue Showformate entstanden. „Ein Stream ist nicht nur die abgefilmte Version dessen, was Theater macht“, sagt er. Das habe sich herausgestellt, als man alle Formate noch einmal „aufgebohrt“ habe. Das Publikum einzublenden sei jetzt Teil der Normalität und eine neue Form der Begegnung. Dabei seien einige Kultursparten „einfacher ins Digitale zu übersetzen als andere“: Die Künstler einer Comedy Mixed Show wüssten, „welche Knöpfe sie drücken müssen“, ob live oder im Livestream, während die Atmosphäre eines Ausstellungsbesuchs viel schwerer zu übertragen sei.
Einen Lerneffekt sieht Chris Wawrzyniak bei der Nutzung von Plattformen wie Zoom oder Twitch. Die digitale Bandfusion habe Anfang März mit knapp 600 Besuchern sehr gut funktioniert, allerdings erst nach vielen Proben mit großem Aufwand. „Man denkt sich in phantastische Welten“, hat er erfahren. Doch die besseren Ergebnisse kämen heraus, wenn man die Projekte „nicht mit Aufwand überfrachtet“.
Spieler und Publikum brauchen sich
„Vieles ist aus der Not geboren“, sagt Ralf Piorr, Historiker und Mitarbeiter im Heimatmuseum Unser Fritz, über die digitalen Formate, die in den letzten Monaten entstanden sind. So auch im Heimatmuseum, wo der Filmemacher Young-Soo Chang einen dreiteiligen Imagefilm gedreht hat und jetzt ein Video die Ausstellung „Automobilism“ ankündigt. Werbetechnisch vertretbar und auch für die Zukunft denkbar, sagt Piorr, aber elementar sind für ihn die Begegnung und der Kontakt mit den Menschen im Museum. Was für ihn nicht ausschließt, dass weitere digitale Formate für die Geschichtsarbeit entstehen können.
Die Künstlerzeche Unser Fritz hat sich ebenfalls dem Digitalformat zugewandt - und will es durchaus beibehalten, wie Erika Porsch als zweite Vorsitzende des Fördervereins erklärt. Mit Hilfe eines Videos könnten „alle, die nicht kommen, einmal virtuell durch die Räume gehen können“. Wichtig ist ihr ein ergänzendes Interview mit der Künstlerin oder dem Künstler. „Die Zugriffe haben gezeigt, dass der Bedarf da ist“, sagt Erika Porsch. Ein Film von Lennard Lüning und Falko Herlemann über die Ausstellung von Katarzyna Stefania Józefowicz (bis 30. Mai) ist soeben online gegangen: https://youtu.be/Mm66YxMvCYw.
Für Gaby Kloke vom Theater Kohlenpott bleibt der Livestream zweite Wahl. Mit der Verfilmung des Musikstücks „Ich bin Liebe“ hat sich das Theater auch dieser Form zugewandt, doch: „Publikum und Spieler brauchen sich gegenseitig“, sagt Kloke. Und das Theater brauche seinen Theaterraum, ob drinnen oder draußen. „Jede Aufführung wird durch das Publikum geprägt.“ Mit dem Spiel unter freiem Himmel hat das Theater unterdessen so gute Erfahrungen gemacht, dass „Peer Gynt im Park“ im August „Alice im Park“ folgen wird. Wieder als Koproduktion mit dem Theater Rottstraße Bochum und Artscenico Dortmund im Schlosspark.