Herne. Bisher ist das Jobcenter mit einem „blauen Auge“ durch die Corona-Krise gekommen. Geschäftsführer Karl Weiß im Interview mit der Herner WAZ.

In den zurückliegenden Pandemie-Monaten ist vor allem die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland erheblich angestiegen und hat im vergangenen Dezember sogar den höchsten Stand seit vier Jahren erreicht. Karl Weiß, Geschäftsführer des Jobcenters Herne, erläutert im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann die Situation in der Stadt.

Herr Weiß, ziemlich genau vor einem Jahr wurde der erste Coronafall in Deutschland registriert. Als die Pandemie an Fahrt gewann, hatten Sie da die Befürchtung, dass es eine sogenannte Hartz-IV-Welle auf das Jobcenter zurollt?

Weiß: Wir haben relativ schnell gemerkt, dass die Krise im Jobcenter wohl etwas später ankommt, aber einschätzen konnten wir die ganze Situation natürlich zu Beginn überhaupt nicht. Es war klar, dass viele Menschen erstmal einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Wir hatten vermutet, dass diejenigen, die keinen Anspruch haben, direkt zu uns kommen, aber in der Praxis gab es weniger Anfragen und Anträge als wir vermutet hatten.

Welche Erklärung gibt es dafür?

Zunächst einmal hat das Kurzarbeitergeld als Instrument gut gewirkt. Darüber hinaus hat die Verlängerung des Bezugs des Arbeitslosengelds I seinen Beitrag geleistet und natürlich die Hilfszahlungen für Selbstständige. Wir haben zum Ende des vergangenen Jahres 11.123 Bedarfsgemeinschaften gehabt, das waren im Vergleich zum Dezember 2019 88 weniger. Die Zahl der Menschen, die in diesen Bedarfsgemeinschaften leben, ist auch etwas gesunken. Ende Dezember 2019 waren es 23.460, jetzt waren es 23.232. Das erklärt sich auch aus der Phase, in der im vergangenen Jahr Vermittlungen in Arbeit erfolgten. Das heißt allerdings nicht, dass es Stillstand gab. Es gab immer viel Bewegung. Menschen kommen hinzu, andere gehen in Arbeit.

Eins der wichtigsten Instrumente des Jobcenters, um Menschen in Arbeit zu bringen, sind die Qualifizierungsmaßnahmen. Konnten diese weiterlaufen?

Sie sind zu Beginn der ersten Pandemie-Phase unterbrochen worden, sind dann im Rahmen der Lockerungen wieder aufgenommen worden. Da gab es auch Präsenzmöglichkeiten. Ab November mussten die Träger der Maßnahmen diese wieder deutlich reduzieren und vermehrt digitale Möglichkeiten anbieten.

Aber Sie hatten sich für 2020 sicher andere Ziele vorgenommen?

Absolut. Der Jahresbeginn 2020 war ja noch ganz gut, doch dann mussten wir bei den Arbeitsvermittlungen einen harten Einbruch verzeichnen. Wir haben im Vergleich zu 2019, was ein gutes Jahr war, im vergangenen Jahr 22 Prozent weniger Vermittlungen in den ersten Arbeitsmarkt verzeichnet.

Haben eigentlich vermehrt Selbstständige oder Kurzarbeitergeld-Bezieher Anträge auf Unterstützung durch das Jobcenter gestellt, als die Pandemie für den ersten Lockdown gesorgt hat?

Tatsächlich gar nicht so viele, wie man vielleicht erwarten konnte. Wir haben bei den Selbstständigen nur 179 Personen, die zurzeit Leistungen vom Jobcenter erhalten. Vor einem Jahr waren es 135 Personen. Allerdings ist die Tendenz jetzt, im Zuge des zweiten Lockdowns, steigend. Es kommen stetig mehr Soloselbstständige auf uns zu und dafür ist die Grundsicherung ja auch da. Aber noch ist die Zahl tatsächlich überschaubar. Dies gilt auch für die Menschen, die aufstockende Leistungen zum Kurzarbeitergeld bekommen, dies sind 79 Personen.

Karl Weiß, Geschäftsführer des Herner Jobcenters, hat 2020 noch keine echte Krise in der Grundsicherung ausgemacht, aber die Zahlen würden vermutlich spätestens im Juni steigen.
Karl Weiß, Geschäftsführer des Herner Jobcenters, hat 2020 noch keine echte Krise in der Grundsicherung ausgemacht, aber die Zahlen würden vermutlich spätestens im Juni steigen. © WAZ | Sabrina Didschuneit

Also ist das Jobcenter mit einem blauen Auge davongekommen?

Für 2020 muss man es schon so resümieren: Die Krise ist in der Grundsicherung SGB II noch nicht so stark feststellbar. Die Zugänge sind insgesamt überschaubar. Allerdings sind die Abgänge in den ersten Arbeitsmarkt natürlich deutlich weniger geworden. Das ist schon ein Problem. Mit Prognosen tue ich mich schwer. Die Entwicklung beim Jobcenter hängt von dem Verlauf und der Dauer der Pandemie ab. Kurzarbeitergeld und Arbeitslosengeld I haben bis jetzt viel abgefangen. Zwischendurch ging es ja auch 2020 schon wieder ein wenig aufwärts. Aber jetzt ist eine neue Phase eingetreten. Ich glaube, dass sich die Krise vermutlich spätestens im Juni oder Juli zahlentechnisch sehr bemerkbar machen wird. Die Zahlen werden steigen. Und einige Menschen werden aus dem Bereich des Arbeitslosengelds I Anträge beim Jobcenter stellen. Größenordnungen kann man seriös nicht vorhersagen. Man muss auch sagen, dass Herne eigentlich eine gute Entwicklung in 2019 und auch teilweise im Jahr 2020 hatte. Das Bündnis für Arbeit und andere Initiativen, auch Neuansiedlungen haben Wirkung gezeigt. Die Arbeitslosenquote war ja unter zehn Prozent gesunken. Da waren wir in der Stadt bereits auf einem guten Weg. Ich hoffe und glaube auch, dass es so kommen wird, wann genau, bleibt abzuwarten.

Wie sieht es denn mit der Nachfrage nach Arbeitskräften aus?

Es gibt natürlich Branchen, da geht gar nichts mehr. Aber es gibt auch Branchen wie Lagerlogistik oder den Lebensmitteleinzelhandel, wo eine Nachfrage besteht. Der Helferbereich, gerade bei Fahr- und Lieferdiensten, ist auch gefragt. Da ist schon noch Bewegung. Wir haben für dieses Jahr auch wieder eine Reihe von Qualifizierungsmaßnahmen vorgesehen, jetzt müssen wir schauen, was davon realisierbar ist. Einige Maßnahmen erfordern Präsenz, das müssen wir natürlich verschieben. Andere Maßnahmen können mit digitaler Unterstützung ohne Präsenz funktionieren.

Kann der Herner Arbeitsmarkt wieder schnell an Fahrt aufnehmen, wenn sich die Situation verbessert?

Ich glaube schon. Es war ja vor der Pandemie ein starker Aufwärtstrend zu sehen, deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir relativ schnell wieder in die Vermittlung einsteigen können, wenn sich die Rahmenbedingungen verbessern bzw. gegeben sind.

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Menschen, die Leistungen beziehen?

Wir registrieren, dass das Geld bei den Menschen pandemiebedingt noch knapper als ohnehin schon gegeben ist. Höhere Ausgaben sind da schwer aufzufangen.

Es gibt ja schon Forderungen nach mehr Unterstützung, weil die Lebenshaltungskosten gestiegen sind, etwa für Strom oder für Lebensmittel…

Die Forderungen sind nachvollziehbar und auch berechtigt. Die Politik beschäftigt sich ja auch bereits mit Lösungsansätzen – das finde ich gut.

Nutzt denn das Jobcenter Möglichkeiten, um den Menschen zu helfen? In der Vergangenheit waren ja Sanktionen immer mal ein Thema.

Es gibt aktuell immer noch Vermittlungen in bestimmten Branchen. Die vielen Vermittlungen der Vorjahre zeigen ja auch, dass die Menschen im SGB II gut mitwirken, motiviert und fleißig sind. Sanktionen gibt es fast gar nicht mehr, weil sie früher in erster Linie für Meldeversäumnisse verhängt wurden. Das ist größtenteils weggefallen, weil keine persönlichen Einladungen mehr erfolgen. Kurzum: Sanktionen sind im Moment kein Thema.

>> SO HÄLT DAS JOBCENTER DEN BETRIEB AUFRECHT

Nach den Worten von Karl Weiß hat das Jobcenter die persönlichen Kontakte erst mal reduzieren müssen, nach dem Ende des ersten Lockdowns sei im Sommer 2020 wieder einiges an persönlicher Betreuung möglich gewesen. Im Moment würden allerdings nur die Notfälle im persönlichen Kontakt bearbeitet. Viele Kontakte erfolgen telefonisch, per E-Mail oder postalisch. Weiß: „Der Grundsatz lautet immer, dass die Menschen uns erreichen können und ihre Anliegen schnell und umfassend geklärt werden. Das ist unser Anspruch.“ Es habe anfangs Anlaufprobleme gegeben, inzwischen klappe es insgesamt ganz gut. Es gebe eine eigene Hotline, die eine hohe Erreichbarkeit sicherstellt. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen betreffend, werde Mobilarbeit angeboten und auch gut genutzt. Darüber hinaus gebe es im Jobcenter ausschließlich Einzelbüros und ein strenges Hygienekonzept. Die Funktionalität ist aus Weiß’ Sicht gut gegeben.