Herne. In Herne sind besonders viele Mädchen und Jungen von Armut betroffen. Sozialdezernent Chudziak plädiert für Kinder-Grundsicherung.

Hernes Sozialdezernent Johannes Chudziak hält eine sogenannte Kindergrundsicherung für einen geeigneten Ansatz, um Kinderarmut zu verhindern. Das sagte Chudziak im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Hintergrund ist die Studie der Bertelsmann-Stiftung, die zu dem Ergebnis kommt, dass in Deutschland etwa 2,8 Millionen unter 18-Jährige von Armut betroffen sind.

Die Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass Herne zu jenen Städten zählt - neben weiteren Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund -, in denen besonders viele Mädchen und Jungen von Armut betroffen sind.

Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften ist in fünf Jahren um etwa 1800 gesunken

Sozialdezernent Johannes Chudziak hält eine Kinder-Grundsicherung für ein gutes Instrument, um Kinderarmut vorzubeugen.
Sozialdezernent Johannes Chudziak hält eine Kinder-Grundsicherung für ein gutes Instrument, um Kinderarmut vorzubeugen. © Unbekannt | Archivfoto: Raffalski

Für Chudizak - der nach dem altersbedingten Ausscheiden von Gudrun Thierhoff kommissarisch für den Bereich Kinder, Jugend und Familie verantwortlich ist - ist der Befund alles andere als eine Überraschung. In Herne gebe es bekanntermaßen einen hohen Anteil an Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des Durchschnitts aller Haushalte betrage und Heranwachsende in Familien, die Hartz IV bezögen. Chudziak: „Wir arbeiten seit Jahren daran, diesen Zustand zu verbessern, wir kennen die negativen Wirkungen von Armut.“

Eine Stellschraube, an der gerade der Oberbürgermeister drehe, sei die Verbesserung der Arbeitsplatzsituation. Wenn man das Einkommensgefüge in der Stadt verbessern wolle, brauche man mehr Arbeitsplätze und auch besser bezahlte Arbeitsplätze. Da sei über das Bündnis für Arbeit und die Ansiedlungen viel passiert. Die Zahl der Arbeitslosen sei sichtlich gesunken, die Zahl der sogenannten Bedarfsgemeinschaften sei seit 2015 um etwa 1800 gesunken. Auch das Teilhabe-Chancengesetz sei ein Instrument, um Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen, wobei der Fokus auf Alleinerziehenden liege.

Chudziak: Bildungs- und Teilhabepaket ist ein bürokratisches Monster

Die Stadt versuche außerdem mit verschiedenen Maßnahmen, die negativen Folgen der Kinderarmut abzumildern. Dazu gehöre die Beitragsfreiheit in den Kindertagesstätten, kostenloses Mittagsessen, kostenfreie Angebote in den Jugendeinrichtungen. Ziel sei es, dass möglichst alle Kinder in die Kita gehen - und das so früh wie möglich, um gleiche Bildungsvoraussetzungen zu schaffen. Hinzu kämen Förderprogramme oder Sportgutscheine für Erstklässler.

Das Bildungs- und Teilhabepaket hält Chudziak für ein bürokratisches Monster. Viele Dinge müssten einzeln beantragt werden. Dass es gar nicht so stark in Anspruch genommen werde, liege daran, dass viele Leistungen immer wieder individuell beantragt werden müssten, Eltern aber die Leistungen, die den Kindern zustehen, nicht abrufen.

Finanzielle Hilfen für Kinder würden dadurch erschwert, dass es gegenüber den Eltern ein Grundmisstrauen gebe, dass sie nicht in der Lage sind, das Geld für ihre Kinder einzusetzen. Chudziak. „Dieses Grundmisstrauen ist aus meiner Sicht nicht berechtigt.“

Chudziak plädiert dafür, im Hartz-IV-System eigene Ansprüche für Kinder einzubauen, weil sonst Leistungen wegen Anrechnungsregelungen nicht bei ihnen ankommen. Es sei nicht richtig, Kinder an den Arbeitslosenstatus der Eltern zu knüpfen. „Wieso ist ein Kind im nicht-arbeitsfähigen Alter Jobcenterkunde?“

Weitere Stimmen zur Studie:

DGB

Der Herner DGB-Chef Eric Lobach
Der Herner DGB-Chef Eric Lobach © Funke Foto Services GmbH | Rainer Raffalski




Eric Lobach

, Vorsitzender des Herner DGB-Stadtverbands, kritisiert das Hartz-IV-System: Die Regelsätze seien zu niedrig, um Kindern eine ausreichende soziale Teilhabe zu ermöglichen. Die sozialen Sicherungssysteme müssten angepasst werden, aktuell auch durch krisenbedingte Aufschläge und vereinfachten Zugang zu Leistungen.

Die Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen sei kein Verteilen von Almosen, denn jedes Kind habe ein Recht auf ein gutes Aufwachsen. Lobach: „Wir fordern, dass die Bekämpfung der Armut von Kindern und Jugendlichen bei der kommenden Bundestagswahl eine zentrale Rolle spielt.“

Arbeitslosenzentrum


Auch Franz-Josef Strzalka

, Leiter des Arbeitslosenzentrums, ist der Meinung, dass mehr gegen die Bekämpfung der Kinderarmut getan werden muss, denn Studien hätten gezeigt, dass diese bei den Kindern und Jugendlichen langfristige Auswirkungen habe, etwa auf das Selbstwertgefühl. Aus seiner täglichen Praxis weiß er, dass Ausgrenzung von Kindern schon bei Kleinigkeiten beginne.

Schuldnerberatung

So erlebt es auch
Andrea Leyk

, Leiterin der Schuldnerberatung: Wenn eine überschuldete Alleinerziehende Hilfe suche, dann sei kein Geld mehr für die Kinder da, weil irgendwie Strom und Miete bezahlt werden müssten. Es passt zur Bertelsmann-Studie, dass die Schuldnerberatung im Mai eine Aktionswoche unter dem Titel „Chancenlose Kinder?- Gutes Aufwachsen trotz Überschuldung!“ veranstaltet hat. Um den Kindern das Recht auf eine von Schuldenproblemen unbelastete Kindheit und Jugend zu gewährleisten und ihnen gute Startbedingungen für die Zukunft zu schaffen, bedürfe es deutlicher Reformen, so Leyk. Auch sie plädiert für die Einführung einer eigenständigen Kindergrundsicherung.

Kinderanwältin

Nuray Sülü mit dem Kinderstadtplan.
Nuray Sülü mit dem Kinderstadtplan. © WAZ | Sabrina Didschuneit


Ob Ausflug, Sportverein oder Musikschule: Es sind die Kinder aus armen Familien, die bei diesen Freizeitaktivitäten fehlen. Dabei könnten sie dabei sein, dank der Zuschüsse nach dem Bildungs- und Teilhabegesetz (BuT). „Aber das BuT wird nicht so genutzt, wie es sollte“, sagt Kinderanwältin

Nuray Sülü,
und das habe mit dem aufwendigen Verfahren zu tun. „Ich würde mir wünschen, dass das Geld direkt in die Grundsicherung einfließt oder in eine ,Freizeitkarte’.“ Auch den schulischen Bereich sieht sie mit Sorge. Während des Lockdowns sei man davon ausgegangen, „dass jedes Kind ein Tablet oder einen Computer hat. Ich kenne viele, die keinen Internetzugang haben, geschweige denn funktionierende elektronische Geräte.“ Auch an gesunde Ernährung sei in vielen Familien nicht zu denken. „Die günstigste Variante ist Toastbrot, und das ist nicht gesund“.