Herne. Für Kinder ist die Corona-Zeit belastend. Gewalt könnte in einigen Familien zugenommen haben, sagt Kinderanwältin Bibi Buntstrumpf im Interview.
Auch für Kinder ist die derzeitige Corona-Pandemie belastend. Spielplätze und Schulen waren lange Zeit geschlossen, Eltern sind durch die ständige Doppelbelastung von Kindererziehung und Arbeit gestresster als sonst. Wie sich diese Situation auf Kinder auswirkt, erklärt Hernes Kinderanwältin Bibi Buntstrumpf alias Nuray Sülü im Interview mit der WAZ.
Corona verändert derzeit viele Lebensbereiche. Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag geändert?
Nuray Sülü: Viel läuft über Videokonferenzen ab. Was aber natürlich fehlt, ist der direkte Kontakt zu den Kindern. Zum Beispiel musste die Beteiligungsaktion für den Spielplatz neben dem Heisterkamp ausfallen, so dass wir sie online durchgeführt haben. Es stellt uns alle vor neue Herausforderungen, auf die wir reagieren müssen.
Was ist die größte Herausforderung?
Ich bin normalerweise viel in Schulen unterwegs und mache sogenannte Kindersprechstunden. Das fehlt komplett, weil die Schulen zu sind. Deswegen können die Kinder mit ihren Anliegen gerade zu niemandem gehen. Da mache ich mir große Sorgen.
Haben Sie denn überhaupt gerade Einblicke in die Situation der Kinder und Familien?
Nein, ich kann zurzeit nur Hypothesen aufstellen. Ich kenne das nur aus der Ferienzeit. Da, wo Familien zu lange aufeinander sitzen, knallt es häufiger. Und deshalb glaube ich, dass dieser Zeitraum, der ja jetzt viel länger ist, für die Familien belastend ist. Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass es vielen Kindern und vielen Familien gerade nicht gut geht.
Kommt es durch diese Belastung auch zu mehr Gewalt?
Das eine bedingt leider das andere. Der Stresspegel ist sehr hoch, denn es kommt viel zusammen. Und dabei reden wir nicht von gut situierten Familien, die ein Eigenheim haben und ein Trampolin im Garten. Wir reden von den Familien, denen es sowieso nicht so gut geht, die auf beengtem Raum leben. Dazu kommen die hohen Anforderungen an die Eltern. Schulen und Kitas sind zu, also müssen die Hausaufgaben gemeinsam erledigt werden. Ich bin mir sicher, dass es da häufig knallt.
Sie sagten, dass Sie viele Videokonferenzen halten. Gibt es so ein Angebot auch für die Kinder?
Ich bin für die Kinder jederzeit erreichbar. Über Facebook und über Whatsapp zum Beispiel. Da ist bislang noch nichts gekommen. Aber das ist ja der Grund, warum ich irgendwann mit den Sprechstunden an den Schulen angefangen habe. Ich habe festgestellt, dass viele Kinder in einem gewissen Alter sich nicht gezielt irgendwo melden. Das machen sie meistens erst, wenn sie auf einer weiterführenden Schule sind. Aber meine Beobachtung ist, dass gerade die Kinder im Grundschulalter direkte Ansprechpartner brauchen. Und daher gehe ich davon aus, dass es nach der Öffnung der Schulen mehr werden wird.
Haben Sie die Maßnahmen des Landes als zu hart empfunden?
Das war aus Kindersicht definitiv zu hart. Man muss das immer von verschiedenen Gesichtspunkten sehen. Aus Sicht von Kindern war das sicherlich am Anfang noch nett. Keine Schule, keine Kita, mehr Zeit zu Hause. Aber später änderte es sich. Sie durften nicht raus, nicht mehr ihre Freunde sehen. Auch die Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen sind wichtige Ansprechpersonen und Bezugspersonen, die auf einmal weg waren. Im Grunde genommen waren die Kinder isoliert. Das ist eine Herausforderung. Auch wenn Kinder in der Regel sehr anpassungsfähig sind, ist der aktuelle Zustand für Kinder aus ohnehin belasteten Familien nicht hilfreich.
Also kann das auch langfristige Folgen für die Kinder haben?
Auf jeden Fall ist es eine Unterbrechung in der Entwicklung der Kinder. Es hat alle aus der Bahn geworfen. Wenn ich „Ich wünsch mir was“ spielen könnte, dann hätte ich mir für die Kinder ein anderes Vorgehen gewünscht.
Wie würde das aussehen?
Ich hätte die Notgruppen von Anfang an auch auf die Familien ausgeweitet, bei denen man weiß, dass es die Elternverhältnisse erfordern. Dort, wo das Jugendamt und die Schule ein Auge drauf haben. Diese Familien hätte man entlasten müssen. Das ist ja dann später erfolgt.
Haben Sie Tipps für Eltern, die gerade überfordert sind?
Ich weiß, dass die Stadt extra eine Hotline für Eltern eingerichtet hat. Wenn sie sich da nicht melden wollen, können sie sich bei mir melden. Ich mache auch gerne Termine draußen im Park mit Abstand. Die Eltern sollen sich Hilfe holen – bevor es eskaliert. Lieber einmal mehr anrufen als einmal zu wenig. Hilfe holen ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche. Ich wünsche den Eltern und natürlich den Kindern und Jugendlichen noch ganz viel Kraft durchzuhalten.
Hat denn diese Krise auch irgendetwas Positives für Kinder?
Ja, das hat sie auf jeden Fall. Ein Junge aus der Nachbarschaft ist damals nur gerne zur Schule gegangen wegen der Pausen. Und jetzt vermisst er die Schule, er will unbedingt wieder zurück. Ich denke, wir lernen alle, Dinge wieder wertzuschätzen, die früher selbstverständlich für uns waren.