Herne. . Volker Eichener, Experte für Immobilienwirtschaft, vermisst in Herne ein Stadtentwicklungskonzept. Viele Entscheidungen würden spontan gefällt.

Beim Forum Wohnen haben Anfang der Woche Vertreter von Verwaltung, Politik, Wohnungswirtschaft und Architekten über die Perspektiven Hernes diskutiert. Ein Tenor lautete, dass die Perspektiven gut seien. Doch V olker Eichener, Professor an der Hochschule Düsseldorf und Experte für Wohnen und Stadtentwicklung, reicht dies nicht. Der Wanne-Eickeler fordert ein komplettes Stadtentwicklungskonzept. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann skizziert er seine Vorstellungen.

Ein Ergebnis des Forums war, dass die Perspektiven für den Wohnstandort gut seien. Dann ist doch alles wunderbar, oder?

Eichener: Wenn man eine nüchterne Analyse der Stärken und Schwächen Hernes macht, aber auch der Chancen und Risiken, dann stellt man fest, dass Herne nicht viele Möglichkeiten bleiben, im Wettbewerb der Städte untereinander zu bestehen. Wir haben allerdings Stärken im Bereich Lebensqualität.

Das klingt erstmal überraschend. Herne haftet ja das Image einer grauen Maus an...

Tatsache ist aber, dass es keinen Punkt in Herne gibt, wo man nicht kurzer fußläufiger Entfernung eine Grünfläche findet, es gibt keine großflächigen Problemsiedlungen, und es gibt ein dezentrales Kulturangebot in allen Stadtteilen.

Es gibt also mehr Stärken, als die Herner selbst für möglich halten...

Und es kommt noch eine große hinzu. Herne gehört zu den sichersten Städten in Deutschland.

Wenn man diese Stärken sieht, fehlt doch eigentlich gar nichts für den Wohnstandort Herne. Oder doch?

Was ich vermisse, ist ein Stadtentwicklungskonzept. Die Stadt Herne hat so ein Konzept nicht.

Volker Eichener sieht für Herne gute Chancen als Wohnstadt.
Volker Eichener sieht für Herne gute Chancen als Wohnstadt. © Gero Helm

Wie kann so ein Konzept aussehen?

Es muss in allererster Linie eine Vision enthalten. Diese Vision kann für Herne nur bedeuten: Wohnstadt.

Das wäre aber ein bisschen wenig.

Das heißt ja nicht, dass wir in Herne kein Gewerbe mehr ansiedeln sollten, aber es bedeutet, dass Herne die Chance hat, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, indem es hochwertiges Wohnen anbietet, das auch interessant für Fach- und Führungskräfte ist, die die Stadt dringend braucht.

Aber das würde ja die Ausgangsthese unterstützen, dass die Perspektiven gut sind. Und Zuzug von außen gibt es ja schon.

Wir nehmen neuerdings wahr, dass Menschen aus den Nachbarstädten nach Herne ziehen. Das hängt mit der zentralen Lage zusammen, aber auch damit, dass es sich herumspricht, dass es sich in Herne gut wohnen und leben lässt und damit, dass Herne ein niedriges Mietniveau hat, ebenso wie ein niedriges Preisniveau im Eigenheimsektor. Es gibt also in der Tat gute Voraussetzungen für eine Wohnstadt Herne, aber wir machen zu wenig daraus.

Das müssen Sie begründen.

Weil es kein Stadtentwicklungskonzept gibt und damit keinen Kompass, der anzeigen würde, in welche Richtung es gehen soll. Das führt dazu, dass es in der Stadtentwicklung immer wieder kurzfristige und spontane Lösungen gibt. Es gibt irgendwo eine Nutzung, die untergebracht werden muss und irgendwo ein Grundstück. Dann packt man die Nutzung auf das Grundstück, weil es sich gerade ergibt, obwohl diese Fläche vielleicht für die vorgesehene Nutzung viel zu wertvoll ist.

© Blossey

Ein Beispiel bitte.

Ich habe sogar mehrere. Erstens: Die Herner Wohnungswirtschaft war sehr daran interessiert, den sogenannten Schweinemarkt an der Claudiusstraße in Wanne zu bebauen. Das wäre ein traumhafter Wohnstandort gewesen, mit unmittelbarer fußläufiger Nähe zum Hauptbahnhof und in die Innenstadt, zum Mondpalast und die VHS. Wenn man das Ziel verfolgt, auch Wanne sozial aufzuwerten, dann hätte man dort hochwertiges Wohnen anbieten müssen. Aber die Stadt hat entschieden, dort die Rheumaklinik anzusiedeln, die auch gut auf andere Standorte gepasst hätte. Zweitens: Die Akademie Mont-Cenis ist ganz toll für Sodingen, aber durch die Randlage gibt es keine Synergieeffekte für die City. Drittens: Das Solbad in Wanne-Süd. Ein historisches Gebäude in zentraler Lage, das durch eine Kita unternutzt und hinter blickdichten Zäunen versteckt wird. Viertens: Die Grundstücke an der A 43-Anschluss-Stelle Eickel bilden den zentralsten Ort des Ruhrgebiets. Diese Flächen sind weitgehend verschwendet worden für Parkplätze, Systemgastronomie, Autohäuser und isolierte Fachmärkte.

Aber die Gastronomie funktioniert doch bestens und ist ein Magnet...

Ja, aber sie ist nicht wertvoll genug für die kostbaren Flächen. Herne braucht dringend hochwertige Arbeitsplätze und Steuerkraft. Wir brauchen eine hohe Flächenproduktivität, eine hohe Arbeitsplatzdichte pro Quadratmeter Fläche und hoch qualifizierte Arbeitsplätze. Systemgastronomie und Logistik bieten das nicht.

Dass das zweite Becken im Wanner Hafen zugeschüttet wurde, hält Volker Eichener für Verschwendung.
Dass das zweite Becken im Wanner Hafen zugeschüttet wurde, hält Volker Eichener für Verschwendung. © Blossey

Aber gute Erreichbarkeit schreit doch gerade nach Logistik.

Herne hat viel zu wenige Flächen, um sich den Luxus zu leisten, diese Flächen für Logistik zu verschwenden, die nur sehr wenige Arbeitsplätze pro Quadratmeter Fläche bietet. Wenn Herne Wohnstandort sein will und davon ökonomisch profitieren will, dann muss man auf die Stärken setzen. Die Stadt hat mit dem neuen Logo ja erkannt, dass sie über Wasser verfügt. Es gibt eine Faustregel, dass ein Quadratmeter Wasserfläche den gleichen Wert hat wie fünf Quadratmeter Landfläche. Grundstücke mit Blick aufs Wasser sind extrem begehrt. Deshalb werden in anderen Städten künstliche Wasserflächen gebaut, siehe Phoenixsee. Was macht Herne? Man hat den Wanner Westhafen zugeschüttet, nur um Logistik unterzubringen.

Aber ist das denn eine gute Wohnlage?

Eine der besten Wohnlagen im gesamten Ruhrgebiet. Das hatte übrigens schon Engelbert Heitkamp erkannt, der ja entlang des Kanals fünf Marinas mit Wohnbebauung errichten wollte. Er war nur zu früh mit seiner Idee. Aber es gibt auch heute immer noch genügend Lagen mit Blick auf das Wasser, die sich für Wohnbebauung eignen. Ich empfehle dringend, entlang des Kanals neue Wohngebiete auszuweisen. Dann kann es Herne gelingen, neue Einwohner anzulocken, die der Stadt Kaufkraft bringen.

Aber Sie haben ja zu Beginn gesagt, dass man nicht vergessen sollte Gewerbe anzusiedeln.

Früher folgten die Menschen den Arbeitsplätzen. Neuere Forschung hat gezeigt, dass es bei den innovativen Branchen umgekehrt ist. Die innovativen Branchen siedeln sich da an, wo sie qualifizierte Mitarbeiter finden und die gehen dorthin, wo sie gute Wohn- und Lebensbedingungen vorfinden. Wenn Herne Standort für Wissenschaft sein will, was sich anbietet als Nachbar der Uni-Stadt Bochum, dann muss Herne diesen Hochqualifizierten attraktive Wohnungen bieten.

Welche Rolle kann dabei ein Stadtentwicklungskonzept spielen?

Ein Stadtentwicklungskonzept, das seinen Namen verdient, hat eine Perspektive über 20 bis 30 Jahre. Das bedeutet, dass Weichen gestellt werden müssen, die für hochwertige Standorte bestimmte Nutzungen vorsehen und andere Nutzungen ausschließen. Die Stadt muss auch wertvolle Flächen, die später entwickelt werden sollen, frühzeitig ankaufen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Und ein Stadtentwicklungskonzept beinhaltet eine Prioritätensetzung: dass man sagt, dass hochwertiges Wohnen Priorität genießt gegenüber konkurrierenden Nutzungen und im Zweifel gegenüber der Logistik. Wenn wir am Kanalufer hochwertige Wohnbebauung entwickeln, die mit viel Grün und öffentlichen Fuß- und Radwegen durchzogen ist, kann Herne seine Steuerkraft, Kaufkraft und sein Talentpotenzial steigern – was die Stadt dringend benötigt, um im Strukturwandel nicht unterzugehen.

>> ZUR PERSON

Volker Eichener lehrt seit 1999 an der Hochschule Düsseldorf (ehemalige Fachhochschule) als Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Sozialpolitik.

2008 ließ er sich beurlauben, um eine private Hochschule für Immobilienwirtschaft in Bochum zu gründen. 2015 kehrte er nach Düsseldorf zurück.

Eichener (59) ist gebürtiger Wanne-Eickeler und wohnt in Wanne-Süd.