Hattingen/Oberhausen/Essen. Mit einem Sturmgewehr wird ein WAZ-Zeitungsbote in Hattingen angeschossen. Eine dramatische Flucht folgt. Der Angeklagte wirkt nur unscheinbar.
Solche Szenen kennt man eigentlich nur aus einem Action-Film: Ein Mann legt in Todesangst den Rückwärtsgang ein, duckt sich weg, hat nur noch eine Hand am Lenkrad. Gleichzeitig schlagen immer wieder Kugeln in sein Auto ein. Genau das ist vor rund einem halben Jahr in Hattingen passiert.
Damals soll ein 32-Jähriger mit einer Kalaschnikow auf einen WAZ-Zeitungsboten geschossen haben. Seit Mittwoch steht der Oberhausener in Essen vor Gericht – und schweigt. Der Vorwurf: Mordversuch.
In Schale geworfen
Die langen schwarzen Haare nach hinten gegelt, dunkelblauer Anzug, rotes Einstecktuch, Karo-Krawatte, schmale Brille: Es war kurz nach zwölf Uhr, als der blasse Angeklagte von zwei Wachtmeistern in den Schwurgerichtssaal des Essener Landgerichts geführt wurde. „Ein Bubi“, wurde auf den Zuschauersitzen getuschelt. „Wie ein braver Student, der zu keiner Party eingeladen wird.“
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Wären die Handschellen an seinen Händen nicht gewesen, hätte man tatsächlich fast meinen können, dass sich der Angeklagte für eine Feier in Schale geschmissen hat, und nicht zu seinem eigenen Prozess geführt wird.
Drei Uhr in der Nacht
Es war die Nacht auf den 11. März 2023, als der 32-jährige Deutsche mit dem BMW seiner Mutter nach Hattingen gefahren sein soll. Das Ziel war die Sackgasse „Am Schellenberg“. Es war drei Uhr. Draußen lag Schnee. Alles war ruhig.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er sein Auto mitten auf der Straße abgestellt hat, dann auf eine nahe Wiese gelaufen ist, um dort Schießübungen zu machen. Insgesamt 13-mal soll er abgedrückt haben. Mit einer Kalaschnikow vom Typ AK-47. Ein Sturmgewehr.
Scheiben splitterten
Der damals 33 Jahre alte Zeitungsbote war mit einem kleinen Kia-Picanto unterwegs. Er musste anhalten, weil ihm der BMW die Durchfahrt versperrt hat. Der Angeklagte soll auch schon wieder an seinem Auto gewesen sein, die Schießübungen waren offenbar beendet. „Der wird gleich schon weiterfahren.“ So oder so ähnlich muss der Hattinger die Situation damals eingeschätzt haben. Doch dann ging alles ganz schnell.
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Laut Anklage ging der 32-Jährige zur Beifahrertür seines Autos, holte das bereits verstaute Sturmgewehr noch einmal heraus. Kurz darauf fielen auch schon die ersten Schüsse. Scheiben splitterten, die Kugeln schlugen rechts und links des Zeitungsboten ein. „Er geriet in Panik“, heißt es in der Anklage, „fuhr in geduckter Haltung rückwärts aus der Sackgasse heraus.“
An Hand und Arm getroffen
Ein Schuss schlug auf der Beifahrerseite in der B-Säule ein, ein anderer nahe der Windschutzscheibe, weitere trafen den Außenspiegel und die Kopfstütze des Fahrersitzes. Der Angeklagte soll mindestens acht Mal abgedrückt haben. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er den 33-Jährigen töten wollte, damit seine nächtlichen Schießübungen nicht bekannt werden.
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Der Zeitungsbote wurde zweimal getroffen. Einmal an der linken Hand, die er am Lenkrad hatte, einmal am Oberarm. Die Ärzte haben später von Steckschüssen gesprochen. Der obere Teil des Zeigefingers wurde zertrümmert. Außerdem wurden zahlreiche Glassplitter-Verletzungen gezählt – an der Wange, am Ohr, am Oberarm. Der 33-Jährige war damals elf Tage im Krankenhaus, erst in Hattingen, dann in Bochum. In der Anklage ist von potenzieller Lebensgefahr die Rede.
Als Staatsanwältin Lena Peters die Anklage verlas, zeigte der Angeklagte keinerlei Regung. Ab und zu machte er sich Notizen, tuschelte mit seinem Verteidiger. Der Oberhausener gilt als extrem gefährlich. Er soll schon mehrere Jahre im Gefängnis gesessen haben – auch wegen Gewalt-Verbrechen.
Festnahme in Berlin
Nach der Tat war er damals zu seiner Freundin nach Berlin gefahren. Dort hatte ihn die Polizei am nächsten Tag festnehmen können. Die Auswertung von Telekommunikationsdaten hatte die Ermittler auf seine Spur gebracht. Die Kalaschnikow ist ebenfalls gefunden worden.
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Ein Schuss war damals auch in die Fassade eines rund 55 Meter weit entfernt stehenden Hauses eingeschlagen. Die Bewohnerin hatte die Schüsse in der Nacht gehört und war aufgewacht. Um zu sehen, was draußen los ist, hatte sie sich im Wohnzimmer auf die Couch gestellt. Das Geschoss schlug laut Anklage 30 bis 40 Zentimeter neben ihrem Kopf ein.
Begutachtung abgelehnt
Nach rund einer Viertelstunde war der erste Verhandlungstag dann auch schon wieder vorbei. Der Angeklagte ließ sich wortlos abführen, verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzusehen. Im Prozess droht ihm neben einer Verurteilung wegen Mordversuchs und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz auch die anschließende und unbefristete Sicherungsverwahrung – zum Schutz der Allgemeinheit. Die Richter haben mit Dr. Maren Losch eine besonders erfahrene Psychiaterin hinzugezogen. Die geplante Begutachtung hat der 32-Jährige allerdings abgelehnt. Er will bislang nicht mit der Psychiaterin sprechen.
Zeitungsbote nicht im Saal
Ob er sich im Prozess zu den Vorwürfen äußern wird, ist ebenfalls noch unklar. Der Zeitungsbote selbst ist zum ersten Verhandlungstag nicht erschienen. Er soll erst zu einem späteren Zeitpunkt vernommen werden. Die Richter haben für das Verfahren zunächst noch sieben Verhandlungstage bis zum 20. Dezember vorgesehen.